Als "Zyklus schauerlicher Lieder" hatte Schubert die "Winterreise" im Freundeskreis angekündigt und mit dieser düsteren Seelenwanderung Befremden ausgelöst. Unzählige Aufnahmen gibt es von Tenören, Baritonen, Bassisten – Frauen sind in der "Winterreise"-Interpretation noch immer die Ausnahme. Christa Ludwig und Brigitte Fassbaender gingen voran, nun folgt ihnen eine genauso opernerfahrene Sängerin nach: die amerikanische Mezzosopranistin Joyce DiDonato. Die Anregung kam vom Chef der Metropolitan Opera Yannick Nézet-Séguin, der in dieser Einspielung auch ihr Klavierbegleiter ist.
Bildquelle: Erato
Der CD-Tipp zum Anhören
Viel wissen wir nicht über diesen Wanderer und die Gründe für seine Weltentfremdung. Nur dass er von einem Mädchen enttäuscht wurde, das einst "von Liebe sprach". Und das nun, vielleicht auf Druck der Eltern, die "reiche Braut" eines anderen ist. Die ungewöhnliche Idee Joyce DiDonatos war es, die ganze "Winterreise" aus der Perspektive dieser Frau zu erzählen. Sie hat das Tagebuch des Geliebten wohl nach dessen Tod per Post erhalten. Nun liest sie – ähnlich wie die Charlotte in Massenets "Werther" – Gedicht um Gedicht und erlebt jede Station seines Leidenswegs nach. Dass DiDonato durch diese Rahmenhandlung in eine monotone Erzählhaltung verfällt, ist bei einer Künstlerin von ihrem dramatischen Kaliber nicht zu befürchten.
Vom intellektuellen Anspruch des deutschen Kunstliedes lässt sich Joyce DiDonato in ihrer Expressivität nicht bremsen. Warum auch? Wem eine solch phänomenale Palette an Stimmfarben und dynamischer Abstufung zur Verfügung steht, der kann – bei kluger Dosierung und klarer Diktion – eben auch großartig differenzierte Seelenbilder entstehen lassen. Von flammendem Schmerz über trügerische Illusion bis zu fahlem Flüstern ist alles dabei.
Dieses Album muss man haben, weil …
… es seit Christa Ludwig und Brigitte Fassbaender mal wieder Zeit wurde für eine große weibliche Interpretation der "Winterreise".
Dieses Album wird lieben, wer …
… auch im Lied keine Angst vor Emphase und Leidenschaft hat!
Dieses Album hört man am besten …
… im Frühling! Schon wegen des emotionalen Ausgleichs zu den "gefrornen Tränen" dieser verzweifelten "Winterreise"!
Was jedoch auch Liedpuristen mit diesem dramatischen Ansatz versöhnen dürfte, ist die absolute Aufrichtigkeit der Sängerin. Ohne jede opernhafte Pose verinnerlicht sie rückhaltlos jede der 24 Situationen, begleitet von Yannick Nézet-Séguin am Klavier. Der Dirigent kann vielleicht nicht mit der pianistischen Vielschichtigkeit eines Gerald Moore oder Gerold Huber aufwarten, doch er atmet, denkt, phrasiert und fühlt bis zur Verschmelzung mit seiner Sängerin. Auch da, wo der Blickwinkel der Frau zur Abweichung von der gewohnten Interpretation führt: Während der Wanderer im letzten Lied längst zu Ende ist mit allen Träumen und den Leiermann nur noch teilnahmslos beobachtet, zittert unserer Protagonistin hier vor seelischem Druck die Stimme – es sind schließlich die letzten Worte des lebensmüden Geliebten.
Ob man den von Joyce DiDonato erprobten Perspektivenwechsel nun mitvollziehen will oder nicht, ist eigentlich egal. Genauso wie die Frage, ob es ein Mann oder eine Frau ist, der Schuberts verzweifelte Seelenreise durchlebt. Wichtig ist nur, dass man mitgenommen wird auf diese Wanderung durch Gefühlsextreme. Und das ist bei DiDonato und Nézet-Seguin zweifellos der Fall.
Franz Schubert:
Winterreise
Joyce DiDonato (Mezzosopran)
Yannick Nézet-Seguin (Klavier)
Label: Erato
Sendung: "Piazza" am 1. Mai 2021 um 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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