Aus der finnischen Provinz in die amerikanische Metropole: Der 67-jährige Osmo Vänskä hat die legendäre finnische Dirigentenschule von Jorma Panula an der Sibelius-Akademie in Helsinki absolviert. Aber bereits seit 2003 lebt Vänskä in Minneapolis, wo er das dort beheimatete Minnesota Orchestra leitet. Mit Erfolg, wie seine kompletten Beethoven- und Sibelius-Zyklen mit dem Orchester für das schwedische Label BIS zeigen. Neu dazugekommen ist jetzt noch ein Jugendwerk von Sibelius: die monumentale "Kullervo"-Symphonie für Soli, Chor und Orchester.
Bildquelle: BIS
Der CD-Tipp zum Anhören
War Jean Sibelius ein Vorläufer der Minimal Music? Fast scheint es so, hört man den Anfang seiner fünfsätzigen Tondichtung über den tragischen Helden Kullervo. Sibelius hat sich dazu von einer Episode aus dem finnischen Nationalepos "Kalevala" inspirieren lassen. Dirigent Osmo Vänskä zieht uns mit seinem brillanten Minnesota Orchestra sofort hinein in den düsteren Mythos. Im Vorspiel entwickelt er einen unwiderstehlichen Sog, bis heroische Fanfaren das verhängnisvolle Geschehen ankündigen.
In der musikalischen Darstellung von Kullervos Jugend dominieren naturhaft-lyrische Töne – da können die exzellenten Holzbläser des Minnesota Orchestra ihre Qualitäten voll ausspielen. Das zentrale Kapitel "Kullervo und seine Schwester" lässt Sibelius von einem Männerchor erzählen: Auf einer Schlittenfahrt durch Lappland vergewaltigt Kullervo ein fremdes Mädchen – seine Schwester, wie sich später herausstellt. Die Männer tragen die Inzest-Geschichte in der Folklore-Tradition von Balladensängern vor.
Dieses Album muss man haben, weil …
… diese unbekannte, großangelegte Vokalsymphonie kaum aufgeführt wird und nur in wenigen CD-Einspielungen vorliegt.
Dieses Album lohnt sich, weil …
… man hier bereits das umwerfende Talent des jungen Sibelius abseits der späteren Symphonien kennenlernen kann.
Dieses Album hat gefehlt, weil …
... mit Osmo Vänskä ein Kenner der Materie am Pult steht, der genau das richtige Feeling für die archaische Tonsprache von Sibelius hat.
Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil …
… Osmo Vänskä seinem brillanten amerikanischen Orchester eine reiche Farbpalette entlockt, die im Surround-Klangbild dieser CD bestens zur Geltung kommt.
Der Männerchor der Universität von Helsinki begeistert durch seine exzellente Stimmkultur, durch Homogenität und Klangschönheit. Was man von der Mezzosopranistin Lilli Paasikivi und dem Heldenbariton Tommi Hakala leider nicht behaupten kann. Für die Rollen von Kullervo und seiner Schwester fehlt ihnen die jugendliche Frische – der einzige Schwachpunkt dieser ansonsten hinreißenden "Kullervo"-Interpretation.
Heftig ist die Wehklage Kullervos, als er sich seiner Schmach bewusst wird. Zwar geht er noch siegreich aus seinem Rachefeldzug gegen die barbarischen Verwandten hervor – Sibelius hat das in einer Art Scherzo vertont. Am Ende aber stürzt sich Kullervo schuldbewusst ins eigene Schwert.
Mit nie nachlassender, federnder Energie zeichnet Osmo Vänskä das tragische Schicksal des Titelhelden nach. Und das Minnesota Orchestra hat von sanften Streicherteppichen bis zu kraftvollen Märschen alle Tonlagen parat für die kühne Klangsprache von Sibelius. Wer je Zweifel an dessen Können gehabt haben sollte, dem sei diese unfassbare Talentprobe des 26-jährigen Komponisten ans Herz gelegt.
Jean Sibelius:
"Kullervo", Symphonische Dichtung für Mezzosopran, Bariton, Männerchor und Orchester op. 7
Lilli Paasikivi, Mezzosopran (Kullervos Schwester)
Tommi Hakala, Bariton (Kullervo)
YL Male Voice Choi
Minnesota Orchestra
Leitung: Osmo Vänskä
Label: BIS
Sendung: "Piazza" am 28. November 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK