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Album der Woche – Antonio Pappano dirigiert Vaughan Williams Symphonien Nr. 4 und 6

Wie Beethoven, Bruckner oder Mahler hatte auch der Engländer Ralph Vaughan Williams neun Symphonien komponiert, als er 1958 starb. Einige davon sind unglaublich gut. Zeitlos aktuell sind sie auch – etwa die Vierte und Sechste. Denn sie erzählen auch nach Jahrzehnten noch viel über unsere verstörende Zeit. Vor allem, wenn man sie so kongenial deutet wie Antonio Pappano und das London Symphony Orchestra.

Bildquelle: LSO live

Der CD-Tipp zum Anhören

Was für ein tobender Beginn. Als die Sechste Symphonie des Engländers Ralph Vaughan Williams 1948 in London zum ersten Mal erklingt, ist das ein Schock für das Publikum, ja dem renommierten Kritiker Deryck Cooke gefriert nach eigenen Worten "das Blut in den Adern". Nach der Dritten, von Vaughan Williams "Pastoral Symphony" genannt, hatte ihm 1922 ein Rezensent noch abschätzig bescheinigt, sie klinge, als schaue "eine Kuh übers Tor". Damit ist es ein Vierteljahrhundert und einen Weltkrieg später gründlich vorbei. Schon die Vierte aus den 30er Jahren war ungemütlich. Die Sechste ist zum Fürchten.

Wie die Lava eines explodierenden Vulkans

Aggressiv, zugleich unheimlich wirkt diese Musik, das Tritonusintervall, der sogenannte diabolus in musica, also der Teufel in der Musik, bestimmt die zerklüfteten Harmonien. Wie die Lava eines explodierenden Vulkans ergießen sich rasende Läufe der Streicher, ehe unerwartet eine hymnische Melodie wie aus der Vergangenheit einer längst unwirklichen Welt herüberklingt. Nur eine Phantasmagorie, wie der brutale Schluss dieses wilden ersten Satzes klarstellt.

Kurz und bündig

Dieses Album lohnt sich, weil …
… Ralph Vaughan Williams immer noch viel zu wenig gespielt wird und seine Symphonien viel bekannter sein sollten.

Dieses Album wird lieben, wer …
… es für gut und sinnvoll hält, intensiv über den Zustand der Welt nachzudenken.

Dieses Album ist großartig, kann aber …
… bei Überdosis zu schweren emotionalen Abstürzen führen und sollte deshalb nur gut dosiert gehört werden.

Fahle Farben über gespenstischem Niemandsland

Von einer Kriegs-Symphonie war die Rede, von der ersten Symphonie nach Hiroshima und ähnlichem mehr. Das Finale als musikalisches Bild einer wüsten, menschenleeren Landschaft nach einem Atomschlag zu deuten, wie damals geschehen, liegt tatsächlich nahe. Geisterhaft kreist die Musik in gedämpften, fahlen Farben über gespenstischem Niemandsland. Vaughan Williams hat jede konkrete Deutung verweigert, sprach lediglich vom "Paradies eines Agnostikers", was für die Deutung mehr Rätsel aufgibt als hilft. So bleibt es jedem selbst überlassen, sich seinen Reim auf diese aufwühlende Musik zu machen. Auch das ist Teil ihrer Größe.

Zeitlos aktuell

Antonio Pappano hat die Sechste und die Vierte Symphonie von Ralph Vaughan Williams in zwei Konzerten Ende 2019 und Anfang 2020 mit "seinem" künftigen Orchester, dem London Symphony aufgeführt. Die jetzt auf CD erschienenen Live-Mitschnitte muss man wohl grandios nennen. Atemberaubend sind sie auch, was in diesem Fall wörtlich zu nehmen ist. Vaughan Williams, ist das nicht der mit der ach so schönen Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis? Ist er. Doch wie Beethoven, Bruckner oder Mahler hatte er auch neun Symphonien komponiert, als er 1958 mit 85 Jahren starb. Einige davon sind unglaublich gut. Zeitlos aktuell sind sie auch. Denn sie erzählen auch nach Jahrzehnten noch viel über unsere verstörende Zeit. Dann zumal, wenn man sie so kongenial deutet wie Antonio Pappano und das London Symphony Orchestra.

Infos zur CD

Ralph Vaughan Williams:
Symphonie Nr. 4 f-Moll
Symphonie Nr. 6 e-Moll

London Symphony Orchestra
Leitung: Antonia Pappano

Label: LSO live

Sendung: "Piazza" am 15. Mai 2021 um 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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