Wenn der Name Vladimir Jurowski fällt, werden Klassik-Fans hellhörig, denn der 47-jährige russische Dirigent wird 2021 als Nachfolger von Kirill Petrenko neuer Generalmusikdirektor an der Bayerischen Staatsoper in München. Bis dahin bleibt Jurowski noch Chefdirigent des London Philharmonic Orchestra. Jetzt sind Konzertmitschnitte aus London mit Jurowski erschienen, die Lust auf Musik von Sergej Rachmaninow machen. Derart ernst genommen, packend umgesetzt und tiefgründig ausgelotet, lassen Jurowskis Rachmaninow-Interpretationen alle Klischees vom sentimentalen Salonkomponisten weit hinter sich.
Bildquelle: LPO
Das Album der Woche zum Anhören
Sanft schaukeln die Wellen, darauf ein Boot mit einem weißen Sarg, einer verschleierten Gestalt und einem Ruderer. Die Barke steuert auf eine Insel mit schwarzen Zypressen und hohen Felsen zu. Grabkammern erwarten die Besucher auf dem berühmten Gemälde "Die Toteninsel" von Arnold Böcklin, das Sergej Rachmaninow zu seiner gleichnamigen Tondichtung inspiriert hat. Vladimir Jurowski steigert die Spannungskurve vom impressionistisch fahlen Beginn zu Ausbrüchen höchster Qual wie in Wagners "Tristan". Es ist diese flammende Intensität zwischen Tristesse und Aufbegehren, die Jurowskis Rachmaninow-Interpretationen so mitreißend macht. Das London Philharmonic Orchestra folgt ihm mit schneidender Brillanz und sattem Klang.
Dieses Album wird lieben …
… wer gern in die romantische Gefühlswelt Rachmaninows eintaucht.
Dieses Album muss man haben …
… weil mit Vladimir Jurowski der künftige Chef der Bayerischen Staatsoper am Pult steht.
Dieses Album hört man am besten …
… bei einem guten Glas Rotwein.
Dieses Album führt bei Überdosis …
… zu Anfällen von Nostalgie und Melancholie.
Noch stärker als in der "Toteninsel" scheint in der Ersten Symphonie das "Dies irae"-Motiv aus der lateinischen Totenmesse auf, das zu Rachmaninows lebenslanger Obsession werden sollte. Duftige Eleganz und virtuose Holzbläser-Soli entlockt Jurowksi seinen Londoner Musikern im Scherzo dieses Werks, das die düstere Grundstimmung von Rachmaninows Erstling nur vorübergehend aufhellt. Durch und durch russisch ist diese Musik – und man kann das Uraufführungs-Fiasko von 1897 nur den miserablen Bedingungen damals zuschreiben. Der Flop seiner Ersten Symphonie stürzte den jungen Rachmaninow in eine schwere Krise, aus der er erst durch Psychotherapie wieder herausfand. Noch weniger verstehen kann man den einstigen Misserfolg, wenn Jurowski im folkloristischen Finale die Kosaken tanzen lässt.
Straff, präzise und vibrierend vor Energie begegnet Jurowski dem oft geschmähten Rachmaninow, mit Sinn für die melodischen Qualitäten und die tiefe Melancholie des "letzten Romantikers". Jurowski hat keine Scheu vor Pathos – sehr wohl aber vor Sentimentalität und Kitsch. München kann sich auf Vladimir Jurowski freuen!
Sergej Rachmaninow:
"Die Toteninsel", Symphonische Dichtung op. 29
Symphonie Nr. 1 d-Moll op. 13
London Philharmonic Orchestra
Leitung: Vladimir Jurowski
Label: LPO
Sendung: "Piazza" am 10. August 2019, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK