Wenn wir heute von Passion reden, dann meinen wir meistens die leidenschaftliche Hingabe. Passion ist aber auch das Leiden selber. Und der sprichwörtliche Leidensweg hat natürlich seinen Ursprung in der Bibel. Seine musikalische Darstellung ist uns auch als Passion vertraut, in der Regel gleichbedeutend mit den großen Passionen von Johann Sebastian Bach. Dabei stehen die Werke Bachs im Kontext einen einer langen Entwicklung und musikalisch-liturgischen Tradition. Um 1680 schrieb der junge Alessandro Scarlatti in Italien seine Johannespassion.
Bildquelle: Ricercar
Der CD-Tipp zum Anhören
Und Scarlatti übernahm für seine Passion die lateinische Vorgabe eins zu eins: Die " Passio secundum Joannem" ist ein dichtes, dramaturgisch wohl durchdachtes, spannendes und mitreißendes Werk. Der Komponist war Anfang 20 und mit seinen ersten Opern erfolgreich, doch in seiner Johannespassion gibt es keine einzige Arie. Der liturgische Text wird durchgehend vom Testo, dem Evangelisten, deklamiert, auf der vorliegenden Einspielung gesungen von Giuseppina Bridelli.
Bis auf wenige herausgehobene Stellen wird die Rolle des Testo nur von der Continuo-Gruppe begleitet. Streicher kommen dazu, wenn sich Jesus zu Wort meldet - ausgesprochen tonschön und klangvoll der Bass von Salvo Vitale - oder die Menschenmenge ihre wenig reflektierten aber folgenreichen Kommentare abgibt. Intuitiv an genau den richtigen Stellen erzeugt Scarlatti mit wenig Mitteln einen großen Effekt: Die Leidensgeschichte von Jesus wird zum lebendigen, hochemotionalen und erschütternden Kino des italienischen Barock.
Leonardo García Alarcón mit seinem Chœr de Chambre de Namur, aus dem auch die weiteren solistischen Rollen besetzt sind, und sein Originalklangensemble Millenium Orchestra erliegen bei dieser Einspielung nicht der Versuchung, die aus sich selbst heraus wirkende Anlage dieser Johannespassion durch die Interpretation noch dramatisch zu doppeln. Die Musiker spielen sehr geradlinig und schlicht, fast ganz ohne Vibrato und kreieren gerade auf diese Weise eine eindringliche Atmosphäre, die einem Schauer über den Rücken jagen kann.
Das richtige Händchen hatte Alarcón auch für die stimmige Gestaltung der CD. Denn der einzige Schwachpunkt von Scarlattis Werk ist, dass diese Art von Dauerrezitativ, losgelöst von seiner Funktion im Gottesdienst, doch auch etwas ermüdend wirken kann. Abhilfe schaffen die eingestreuten, stilistisch verwandten Responsorien der Karwoche für Chor mit Instrumentalbegleitung. Erst durch diese Besinnungspausen wird man angemessen aufnahmefähig, und gleichzeitig verstärkt sich noch die Gesamtwirkung. Ansätze dieser Art gibt es oft, doch selten entfalten sie sich so kongenial wie hier. Wem die alljährliche Bachpassion vor der Osterzeit zu langweilig wird, dem sei diese Aufnahme wärmstens empfohlen.
Giuseppa Bridelli (Mezzo-Sopran)
Salvo Vitale (Bass)
Chœr de Chambre de Namur
Millenium Orchestra
Leitung: Leonardo García Alarcón
Label: Ricercar
Sendungsthema aus "Leporello" am 12. April 2017, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK