Rundfunkarchive sind geduldig. Im Lauf der Jahrzehnte kommen da kaum überschaubare Musikmengen zusammen. Ein Menschenleben reicht nicht aus, das alles durchzuhören. Doch in diesen unzähligen Minuten voller Klänge verstecken sich wahre Schätze. Zwei davon hat nun der ORF zusammen mit dem Label Decca gehoben.
Bildquelle: DECCA
Den CD-Tipp zum Anhören
Das Klavierkonzert von Robert Schumann hat Brendel mehrmals eingespielt, am bekanntesten ist die Aufnahme mit Claudio Abbado und dem London Symphony Orchestra von 1979. Doch der nun veröffentlichte Radio-Livemitschnitt vom März 2001 aus dem Wiener Musikverein ist für mich definitiv die sehr viel schönere Fassung. Das liegt nicht mal in erster Linie an Brendel selbst, er spielt auf beiden Aufnahmen wunderbar klar und poetisch zugleich. Überlegen ist der jüngere Mitschnitt vor allem wegen Brendels kongenialen Partnern: Simon Rattle und die Wiener Philharmoniker. Der Klang ist durchsichtiger, die Tempi deutlich schneller, was vor allem dem langsamen Satz zugutekommt. Und nun hat auch im Orchester jede Phrase Kontur, Richtung, Elan.
Brendel und Rattle machen aus Schumann keinen verträumten Eckensteher, der betulich seine Empfindsamkeit zelebriert. Und das tut gut. Entgegen einer verbreiteten Spieltradition war Schumann kein Seelchen, das ständig selbstmitleidig und selbstgefällig um die eigene Gefühlswelt kreist. Im Gegenteil: Schumanns Musik lebt zwar aus der romantischen Subjektivität, reagiert dabei aber immer auf die Welt, bleibt nie in der Innerlichkeit stecken. Bei Brendel und Rattle wirkt diese Musik unglaublich reich, sie erzählt von Entdeckungen, von Aufbruchsgeist und romantischer Abenteuerlust - und wird dadurch emotional nur um so berührender.
Zum Glück hingen bei dieser musikalischen Sternstunde die Mikrophone des ORF im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins. Stimmig ergänzt wird dieser wunderbar lebendige Livemitschnitt durch einen weiteren Archivschatz. 1979 spielte Brendel im Wiener Konzerthaus ein weniger bekanntes Stück von Johannes Brahms: die Händel-Variationen.
Brendel hatte sich nie entschließen können, das Werk auf Platte einzuspielen, obwohl er es immer wieder im Konzert spielte. Brahms' Variationen schienen ihm zu schematisch. Erst jetzt, mit 40 Jahren Abstand, hat er seine Skepsis gegenüber dem Werk überwunden. Und so farbig und charaktervoll, wie Brendel das Stück an diesem Abend im Juni 1979 spielte, mag man gar nicht glauben, dass er Vorbehalte dagegen hatte.
Klar, Brahms hält sich streng, fast sklavisch an das gleich bleibende Taktschema. Aber man kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie unterschiedlich die Charaktere sind. Brendel treibt dieser Musik alles Schulmeisterliche aus, spielt lässig und rauschhaft, humorvoll und verinnerlicht. Selbst die kleinen Macken eines Livemitschnitts tragen zur Lebendigkeit bei: ein, zwei verrutschte Noten, ein nicht optimal gestimmter Flügel und ein mitten im Stück begeistert losklatschender Konzertbesucher.
Brendel, der einen sehr trockenen Humor hat, dürfte dieser verewigte Fehl-Applaus ein diebisches Vergnügen gemacht haben. Nachdem dieses schöne Dokument lang in den Archiven des ORF geschlummert hat, ist jener enthusiastische Klatscher nun auch Teil der Aufnahmegeschichte.
Rober Schumann:
Klavierkonzert a-Moll, op. 54
Johannes Brahms:
Händel-Variationen, op. 24
Alfred Brendel, Klavier
Wiener Philharmoniker
Leitung: Simon Rattle
Label: DECCA
Sendung: "Leporello" am 16. März 2018 ab 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK