"America First" ist eines der meist gebrauchten Zitate in diesen Tagen - als eine Art Appell an das amerikanische Selbstbewusstsein. Die vorliegende CD-Neuerscheinung hat ebenfalls zu tun mit dem Selbstbewusstsein jener Nation, die einerseits wirtschaftlich-militärisch die Nummer eins ist - oder weiterhin gerne wäre -, die aber auf musikalischem Gebiet bis heute mit eigenartigen Minderwertigkeitskomplexen kämpft. Diesem Phänomen spürt der Pianist Ulrich Roman Murtfeld auch in "American Recital Vol. II" nach.
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Der CD-Tipp zum Anhören
Und gleich die eingangs zu hörenden Klänge von Alexander Reinagles "Sonata No.I" ("Philadelphia") zeigen, dass es sie auf Anhieb wohl niemand mit dem nordamerikanischen Kontinent in Verbindung bringen würde. Eher mit Carl Philipp Emanuel Bach, mit dem ihr Verfasser befreundet war. Oder gar mit Domenico Scarlatti? Alexander Reinagle wurde im selben Jahr wie Mozart im englischen Portsmouth geborenen als Sohn eines österreichischen Trompeters. Mit 30 Jahren siedelte Reinagle über in die kurz zuvor offiziell gegründeten amerikanischen Kolonien an der Ostküste. Ein typischer Migrationsfall der klassischen amerikanischen Musikgeschichte, in der Europa bis heute tonangebend zu sein scheint - selbst, wenn die Protagonisten gebürtige US-Amerikaner sind. Insofern ist Ulrich Roman Murtfelds zweites Album mit amerikanischer Klaviermusik ein weiteres beredtes Zeugnis emanzipatorischen Ringens, das bis in die Gegenwart anhält.
Edward Mac Dowell, der zweite der insgesamt fünf hier vorgestellten Komponisten, war zwar immerhin gebürtiger New Yorker. Er studierte aber in Frankfurt bei Joachim Raff und wurde unter anderem durch Franz Liszt gefördert. Entsprechend "europäisch" klingen seine "Woodland Sketches", in die er, ähnlich wie der Zeitgenosse Antonín Dvorák in seiner "Symphonie aus der Neuen Welt", immerhin auch lokale Idiomatik einfließen lässt.
Und natürlich darf auf diesem Album auch Charles Ives nicht fehlen, dieser bis heute schwer zu fassende Sonderfall der nordamerikanischen Musikgeschichte, der seinen Lebensunterhalt bezeichnenderweise als Versicherungskaufmann verdiente und als wortwörtlicher "Sonntagskomponist" schließlich zum Vater der amerikanischen Moderne avancierte. Postum wohlgemerkt! Ives' auf ganzen drei Seiten notierte "Three-Page Sonata" von 1905 ist eine typische Komposition "für die Schublade". Denn wie so vieles von ihm, kam sie erst mit erheblicher Verzögerung zur Aufführung, ist daher aber umso radikaler und eine echte pianistische Herausforderung.
Letzteres gilt auch für "From my Diary" des gebürtigen New Yorkers Roger Sessions. Er ist der vielleicht wichtigste Vertreter dieses zweiten "American Recital" - von Ulrich Roman Murtfeld ebenso brillant und stilkundig dargeboten wie die anderen vier Komponisten dieser Entdeckungsreise. Beispielsweise der "Bad Boy of Music" George Anteil mit seiner "Jazz Sonata" von 1922. Ausgesprochen hörenswert!
Alexander Reinagle:
Sonata No.I "Philadelphia"
Edward MacDowell:
"Woodland Sketches", 12 Virtuoso Etudes", "New England Idyls"
George Antheil:
"Jazz Sonata"
Charles Ives:
"Three-Page Sonata"
Roger Sessions:
"From my Diary"
Ulrich Roman Murtfeld (Klavier)
Label: Audite
Sendung: "Leporello" am 16. Juni 2017, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK