Als Student musste Schostakowitsch seine Familie finanziell über Wasser halten, sein Vater war früh gestorben. Gutes Geld verdiente er im Kino: Als Stummfilmpianist. Filmmusik hat er auch später geschrieben, vielleicht hat sie ihm sogar sein Leben gerettet. Denn nachdem er wegen seines wild-avantgardistischen Frühwerks ins Fadenkreuz von Stalins Terror-Apparat geraten war, blieb seine enorm erfolgreiche und wirksame Filmmusik ein Trumpf, mit dem Schostakowitsch bei den Parteibonzen punkten konnte. Auch Schostakowitschs Symphonien erzeugen Bilder im Kopf.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
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Die Siebte etwa – ganz großes Kino. Entstanden ist sie mitten im Zweiten Weltkrieg in Leningrad, während die deutsche Wehrmacht die Stadt belagerte. Die Komposition war ein patriotischer Akt des Widerstands. Jedenfalls wurde sie von der sowjetischen Propaganda so dargestellt. Unter abenteuerlichen Umständen wurde Schostakowitsch mit seiner noch unvollendeten Partitur aus der hungernden Stadt ausgeflogen. Die Uraufführung im sicheren Sibirien und mehr noch die ersten Aufführungen in den USA und im belagerten Leningrad selbst machten Schostakowitsch zur internationalen Medien-Ikone.
Bildgewaltig beschreibt diese Musik, wie eine brutale Invasion das friedliche Leben niederwalzt: Ein banales Thema schleicht sich heran, erst kaum hörbar, wird penetrant wiederholt und steigert sich bis zu maximaler, ohrenbetäubender Lautstärke. Eine eindrucksvolle Metapher auf das Kriegsgeschehen, ein symphonischer Breitwand-Bilderbogen, dessen Wirkung sich niemand entziehen kann.
Dieses Album wird lieben, wer …
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… Schostakowitsch-Sucht.
Allerdings, und das ist ein großer Unterschied zur Filmmusik: Die Bilder, die Schostakowitschs Symphonien heraufbeschwört, entstehen nur im Kopf. Der Hörer ist frei, die Botschaft mehrdeutig. Dass Schostakowitsch den deutschen Nationalsozialismus hasste, ist klar. Dass er – entgegen seinen offiziellen Verlautbarungen – auch den stalinistischen Terror verabscheute, konnte jeder aus seiner Musik heraushören, der ein offenes Ohr dafür hatte. Vor allem dann, wenn Schostakowitsch, wie von der Parteipropaganda befohlen, angeblich optimistisch klingt. Etwa im übergeschnappten Finale der Sechsten Symphonie. Dann dreht die Musik dermaßen auf, dass die bittere Ironie mit Händen zu greifen ist.
Der Dirigent Andris Nelsons, 40 Jahre alt, Chef in Boston und Leipzig, hat in seiner Jugend in Lettland die letzten Ausläufer der Sowjetideologie noch selbst durchlebt. Als junger Pionier wurde er vom Staat indoktriniert. Im geschützten Raum der Familie erlebte er, wie die systemkritische Intelligenzija mit halblauter Stimme über die Verlogenheit des Systems diskutierte. Die ambivalenten Stimmungen von Schostakowitschs Musik trifft er perfekt: In den schnellen Sätzen die Übermacht der lauten, brutalen Maschinerie, die unerbittlich jeden zum Mitmachen zwingt. In den langsamen Sätzen die Flucht in die Einsamkeit, in die sich der Einzelne zurückzieht. Gerade diese ruhigen Passagen gelingen Nelsons unglaublich fein und berührend.
Und in den wilden Abschnitten kippt die Musik nie in vordergründiges Lärmen. Nelsons reizt die gewollten Schärfen im Klang gnadenlos aus, hat sie aber nie als Alibi nötig. Sein Boston Symphony Orchestra darf sich gerade deshalb hemmungslos austoben, weil es technisch über den Dingen steht. Eine exemplarische Einspielung. Ganz großes Kino.
Dmitrij Schostakowitsch:
Symphonie Nr. 6 h-Moll, op. 54
Symphonie Nr. 7 C-Dur, op. 70 "Leningrader"
Suite aus der Bühnenmusik zu "König Lear", op. 58a
Festliche Ouvertüre, op. 96
Boston Symphony Orchestra
Leitung: Andris Nelsons
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Leporello" am 01. März 2019, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK
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