Wirft man einen Ball in die Luft, gibt es diesen kurzen Moment am Scheitelpunkt, wo er still zu stehen scheint, schwerelos, bevor ihn die Erdanziehung wieder zu Boden befördert. Ein bisschen gegen die Natur ist das, ein kleiner Augenblick, in dem die Magie der Physik ein Schnäppchen schlägt. Ein bisschen so ist es auch, wenn Anna Netrebko singt.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Was die Russin seit mittlerweile fast 20 Jahren mit ihrer unglaublich ausgewogenen, runden, warmen, vollen, samtenen, niemals scharfen Stimme macht, die klingt wie ein leuchtend roter Plüschsessel im milden Licht, das ist auch immer wieder wie ein Austricksen der physikalischen Gesetze.
Es scheint für die Anna Netrebko keine technischen Schwierigkeiten zu geben, die sie so fordern würden, dass sie nicht mit makelloser Intonation, ewig strömendem Atem und unhörbaren Registerwechseln darauf reagieren, ihren Sopran galant wie durch einen Hindernis-Parcours führen könnte. Das kennt man von ihr seit jeher, bei Mozarts Donna Anna, Bellinis Elvira oder Tschaikowskys Jolantha. Und seit einiger Zeit auch in abgründigeren, dramatischeren Partien wie Verdis Lady Macbeth. Anna Netrebkos unverkennbarer Sopran hat noch mehr an Tiefe, an dunkler Wärme, an satter Mittellage hinzugewonnen, ohne dass in der Höhe irgendetwas an Beweglichkeit und Strahlkraft verloren gegangen wäre. Logisch, dass sie sich damit dem dramatischen Repertoire zuwendet und auf ihrem neuen Album mit dem Titel "Verismo" die Opern-Klassiker von Puccini, Leoncavallo und Catalani angeht.
La Wally, die Gioconda und Manon Lescaut sind für die Sopranistin stimmlich kein Risiko mehr, der Schritt hin zur Tosca und vor allem zu Turandots großer Szene "In questa reggia" schon eher. Mit dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Antonio Pappano hat Anna Netrebko für ihr neues Album stilsichere Partner ausgewählt, die sie durch diesen Verismo-Reigen tragen. Was nicht heißt, dass die Russin sich die Evergreens nicht selbst erarbeitet und an ihrer überzeugenden und geschmackvollen Lesart minutiös gefeilt hat. Und was sie zelebriert, auch bei diesem Repertoire, ist eben wieder ein bisschen gegen die Schwerkraft. Nur, dass der Ball hier die ganzen 70 Minuten in der Luft verharrt, quasi extraterrestrisch, wie wenn für Anna Netrebko die Physik neu erfunden werden müsste.
Opernarien von Giacomo Puccini, Ruggero Leoncavallo, Francesco Cilea, Alfredo Catalani, Amilcare Ponchielli und Arrigo Boito
Anna Netrebko (Sopran)
Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia
Leitung: Antonio Pappano
Label: Deutsche Grammophon