Als "größtes Kunstwerk aller Zeiten und Völker" wurde 1818 die erste Druckausgabe von Johann Sebastian Bachs "h-Moll-Messe" angekündigt und dabei geflissentlich übersehen, dass dieses "Werk" eigentlich in verschiedenen Phasen entstand und gar kein in sich geschlossenes Kunstwerk darstellt, sondern vielmehr ein in Teilen unvollendet gebliebenes Gebilde. Trotzdem zählt die Messe heute zum festen Bestandteil des Konzertrepertoires – auch wenn erst jetzt eine Einspielung auf der Grundlage der wiederentdeckten "Dresdner Stimmen" realisiert wurde.
Bildquelle: Carus
CD Tipp 22.09.2015
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Die bishherigen Aufführungen und Einspielungen der "h-Moll-Messe" basieren auf dem Autograph der Originalpartitur, die sich im Nachlass von Carl Philipp Emanuel Bach befand. Er war es auch, der eigenhändig diverse Korrekturen und Ergänzungen der väterlichen Vorlage vornahm, sodass im Nachhinein schwer zu unterscheiden ist zwischen den Eintragungen von Bach Vater und Bach Sohn. Die vorliegende Neueinspielung dagegen verwendet erstmals die von Johann Sebastian Bach selbst angefertigten "Dresdner Stimmen", die lange Zeit in einem Archiv schlummerten und damals von Bach zu konkreten Aufführungszwecken eingerichtet wurden: diese Einzelstimmen zu den Sätzen "Kyrie" und "Gloria" geben weitaus detailliertere Auskunft über die Absichten des Urhebers, als es das Autograph der Partitur tut. Und sie weichen in ihrer sorgfältigen Ausarbeitung mitunter deutlich von deren Notenbild ab.
Hans-Christoph Rademann, seit 2013 Leiter der Stuttgarter Bach-Akademie, nahm jetzt diese "Dresdner Stimmen" zum Anlass, die h-Moll-Messe in neuer Lesart erstmals aufzunehmen. Das Ganze zusammen mit der Gächinger Kantorei und dem in historischer Aufführungspraxis überaus erfahrenen Freiburger Barockorchester. Das Resultat ist ein wohltuend schlanker Gesamtklang zugunsten der vokalen Linien und deren Textverständlichkeit. Denn gerade in der Ausarbeitung der Gesangspartien liegt eines der Hauptmerkmale des "Dresdner Simmsatzes".
Nicht nur "Kyrie" und "Gloria" wurden bei dieser Neueinspielung einer kritischen Revision unterzogen sondern auch die übrigen Messteile wie etwa das besonders problematische, weil vielfach überarbeitete "Et resurrexit" aus dem "Credo". Und gemäß der Doppelstrategie des Stuttgarter Carus-Verlags erschien zeitgleich zum aufwändig dokumentierten 2-CD-Set nebst DVD-Dokumentation auch die neu edierte Notenausgabe im Druck. Ein sorgsam geschnürtes Gesamtpaket also, das auf verschiedenen Ebenen eine Neubegegnung mit dem Faszinosum von Bachs "h-Moll-Messe" ermöglicht: in Wort, Bild - und vor allem musikalisch.
Messe in h-Moll, BWV 232
Carolyn Sampson (Sopran)
Anke Vondung (Alt)
Daniel Johannsen (Tenor)
Tobias Berndt (Bass)
Gächinger Kantorei
Freiburger Barockorchester
Leitung: Hans-Christoph Rademann
Label: Carus