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CD - Gulda spielt Bach Das Wohltemperierte Klavier

Allen verbalen Beschwichtigungsversuchen des 19. Jahrhunderts zum Trotz – hier Hans von Bülows geflügeltes Wort vom "Alten Testament des Klavierspiels", dort Goethes von der "ewigen Harmonie, die sich mit sich selber unterhalte": Dieses Werk ist das Werk eines Wahnsinnigen.

Bildquelle: MPS

CD - Tipp 13.05.2015

J. S. Bach: Das Wohltemperierte Klavier

Lasse man sich nicht täuschen vom spätbarock schnörkeligen Titel, vom "wohl temperierten Clavier", der unschuldigen Widmung an die "Lehr-Begierige Musicalische Jugend". Temperiert, was ja so viel bedeutet wie "gemäßigt", ist hier gar nichts. Lasse man sich nicht täuschen von den harmlosen Bezeichnungen "Präludium" und noch mehr "Fuge", die Wohlanständigkeit suggerieren und sorgsam gescheitelte Haare und die Ruhe und Zuverlässigkeit des Kontrapunkts. Johann Sebastian Bachs "Wohltemperiertes Klavier" ist etwas anderes. Der wilde Versuch, mit dem Erkunden des Tonraums der abendländischen Musik bis in die letzten, entlegenen Dur- und Moll-Tonarten sozusagen auch den ganzen Kosmos zu ergründen mit Mitteln der Musik. Eine Poetologie des Universums und der menschlichen Seele. Eine emotional-kompositorische Tour de Force, exzessiv, überbordend, maßlos an allen Ecken und Enden, angefüllt bis zum Bersten mit Jubel, Versenkung, Zorn, Trauer, Ekstase.

Gemeißelt und verrätselt tastend

Trafen im April 1972 und Mai 1973 in Villingen im Schwarzwald also sozusagen drei verwandte extremistische Geister zu einer Sternstunde der Interpretationsgeschichte aufeinander, um die beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers aufzunehmen, der Bachs, der des österreichischen Pianisten Friedrich Guldas und der des Soundtüftlers Hans Georg Brunner-Schwer? Unbedingt. Brunner-Schwer ließ die Mikrophone minutiös direkt über die Saiten des Bösendorfers positionieren, keine Spur weihevoller Nachhall, direkt dran an der Energie der Musik. Dann fing Gulda an zu spielen, nein, "zu rasen", jauchzend unter bitteren Tränen, gefühlstief noch in der trockensten Attitüde, singend noch im lakonischsten Staccato, gemeißelt und verrätselt tastend, und das alles mit stupender Technik, in teilweise aberwitzigen Tempi, immer die Tiefensonden im Kern des polyphonen Geschehens. Verblüffend an dieser Neuausgabe, die direkt und ohne Manipulation von den originalen Masterbändern gezogen wurde: Guldas gleichfalls ins Extrem gehende Dynamik, von strahlendem, "gehämmertem" Quasi-Orgelklang bis hin zum zarten Flüstern in Manier eines intimen Clavichords. Ein faszinierendes Nah-Bach-Erlebnis.

Historisch -fulminant

Im Original-Begleittext bedankt sich Friedrich Gulda nach allen Beteiligten am Ende auch "beim großen Johann Sebastian Bach mit dem Versprechen, in Ehrfurcht und Liebe weiterhin und mehr als bisher mein Bestes zu tun. Amen. F.G." Hier hat er wohl kokettiert, der große Friedrich Gulda. Mit dieser Aufnahme hat er sein Bestes gegeben, in Ehrfurcht und Liebe ohne Ende. Fulminant, auch noch nach über 40 Jahren.

Johann Sebastian Bach: Das Wohltemperierte Klavier

Das Wohltemperierte Klavier, Band I und II
BWV 846-869 | 870-893
Friedrich Gulda (Klavier)
Label: MPS

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