BR-KLASSIK

Rieti gehört nicht zu den bekanntesten Orten Italiens (Region Latium), das ReateFestival nicht zu den bekanntesten Festspielen des Landes. Umso interessanter ist die Aufnahme, die dort im September 2014 entstand: Vincenzo Bellinis Romeo-und-Julia-Adaption "I Capuleti e i Montecchi" liegt hier in den Händen eines Originalklangensembles! Fabio Biondi und Europa Galante stellen ihre Interpretation der Belcanto-Oper vor und bieten für die Partie des Romeo mit Vivica Genaux eine der renommiertesten Mezzosopranistinnen der Barockmusik-Szene auf.

Was 1830 in Venedig am Teatro La Fenice bejubelt wurde, sollte später in der Publikumsgunst das Nachsehen haben gegenüber der französischen Oper "Roméo et Juliette" von Charles Gounod oder auch dem russischen Ballett von Sergej Prokofjew: Keine Kampfaktionen, keine Massenszenen gibt es in Vincenzo Bellinis Version des Shakespeare'schen Stoffes. Für die Zeit erstaunliche Szenenkomplexe kommen mit exquisitem musikalischem Lyrismus daher. Wenn man Shakespeare kennt, wundert man sich über das rigoros verringerte Bühnenpersonal.

Romeo als Hosenrolle

Der aus feindlichem Familienlager stammende Geliebte Giuliettas, Romeo, ist vom Komponisten als Hosenrolle für Mezzosopran entworfen worden. Vivica Genaux wirkt darin gezielt unfeminin-jünglingshaft.Den Hunger nach großen Gefühlen vermag die US-Amerikanerin gleichwohl zu stillen, auch abseits des Barockrepertoires, wo sie sonst immer mit enormer technischer Souveränität agiert. Die eigentliche Entdeckung dieser Aufnahme ist jedoch die Rumänin Valentina Farcas, die ihren makellosen Sopran differenziert "pegelt".

Wenig Vibrato

Fabio Biondi hat sich etwas gedacht bei der Besetzung: Mit den Farben der Gesangsstimmen korrespondieren die Farben der alten Holzblasinstrumente, die in den Reihen des Ensembles Europa Galante aufhorchen lassen. Das vibratoarme Spiel der Streicher dürfte für Fans des Belcanto gewöhnungsbedürftig sein, transportiert aber viel von der Tristesse der traurigen Liebesgeschichte.

Melancholische Muse

Man staunt, diesmal quasi aus der Perspektive der historischen Voraussetzungen Bellinis: Was war dieser Sizilianer doch für ein Magier der melodischen Eingebung, für ein Meister der Optimierung hochwertiger, wie mit dem Silberstift gezeichneter Tonfolgen! "Melancónica musa" nannte er seinen Inspirationsquell, melancholische Muse. Das italienische Wort "morbidezza" trifft präzise das sanfte Gemüt Bellinis und seiner sogenannten "Gemütserregungskunst": Das erklärte Ziel des Komponisten war eine sinnlich-radikale Emotionalisierung des Hörers. Genau dafür legt sich Fabio Biondi ins Zeug.