Sie ist ein richtig großer Wurf, die "Sinfonia", die Luciano Berio 1968 komponierte, als Summe seiner Experimentierjahre. Auf der einen Seite gibt sich das Stück für acht Stimmen und Orchester rätselhaft wie eine Sphinx - ein verschlungenes Labyrinth aus philosophischen Texten und mythologischen Anspielungen, durch das man sich bei jedem Hören einen anderen Weg bahnen kann.
Bildquelle: Harmonia Mundi
CD Tipp 20.10.2016
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Auf der anderen Seite sind die fünf Sätze, die Berio übrigens für Leonard Bernstein schrieb, musikalisch zugänglich wie kaum ein anderes Werk der Nachkriegsavantgarde. Zwölftonreihen baden ganz ungeniert in terzenseligen Harmonien, wüste Collagen sprühen nur so vor Sinnlichkeit - so eine Symphonie konnte damals wahrscheinlich nur ein Italiener erfinden.
Das Herzstück ist der berühmte dritte Satz, in dem Berio das Scherzo aus Mahlers Zweiter Symphonie zum Ausgangspunkt macht für eine Reise durch die ganze Musikgeschichte, von Beethoven bis Boulez. Mahlers Sinfonie plätschert dabei wie ein Fluss durch wechselnde Klanglandschaften, wird von Ravel- oder Richard-Strauss-Zitaten verschüttet, nur um an anderer Stelle wieder hervorzutreten.
Man könnte das wie ein lustiges Ratespiel hören - wären da nicht zugleich die bitteren Texte von Samuel Beckett über die Vergeblichkeit aller Kunst. Die Alleskönner des Vokalensembles "Synergy Vocals" singen und rezitieren, summen und schunkeln, flüstern und schreien sich durch diesen fröhlichen Pessimismus, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt.
In den 1980er Jahren ist Luciano Berio dann noch einmal zu Gustav Mahler zurückgekehrt und hat zehn von dessen frühen Klavierliedern orchestriert - nicht exzentrisch, aber effektvoll. Und so farbenfroh, dass Mahler seine Freude daran gehabt hätte. Das BBC Symphony Orchestra unter Josep Pons lässt die Arrangements im Studio so brillant funkeln, so lebensbejahend vibrieren wie zuvor schon die "Sinfonia" im Live-Mitschnitt.
Zum Ereignis wird die CD aber durch Matthias Goerne. Kaum zu glauben, welch schillernde Vielfalt an Timbres er seinem warm strömenden Bariton entlockt. Wenn er in den Liedern Dialoge gestaltet, meint man tatsächlich, zwei oder drei verschiedenen Stimmen zu hören. Und natürlich findet er auch für jede Emotion den richtigen Ton. Ob überschwängliche Freude oder tiefe Verzweiflung, ob Sehnsucht oder schlicht Glück - in wenigen Minuten erweckt Goerne einen ganzen Kosmos zum Leben. Und so entsteht eine Berio-CD, die Herz und Verstand gleichermaßen befriedigt. Von welchem Avantgarde-Komponisten hätte man das sonst behaupten können?
Luciano Berio:
Sinfonia
Gustav Mahler:
Zehn frühe Lieder, orchestriert von Luciano Berio
Matthias Goerne (Bariton)
The Synergy Vocals
BBC Symphony Orchestra
Leitung: Josep Pons
Label: Harmonia Mundi