Carl Heinrich Grauns Passionskantate oder auch Passionsoratorium "Der Tod Jesu" wurde bis weit ins 19. Jahrhundert gerade in Berlin so oft aufgeführt, dass ein Kritiker 1879 (!) sich nichts sehnlicher wünschte, als "die ehrwürdige Reliquie irgendwann von der Tagesordnung verschwinden zu sehen." Der Wunsch ging in Erfüllung. Nun wurde das Oratorium vom Barockorchester L'Arpa Festante neu eingespielt.
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Carl Heinrich Graun
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Es gehört nicht ins Standardrepertoire der Passionsmusiken und -oratorien: Carl Heinrich Grauns Passionskantate oder auch Passionsoratorium "Der Tod Jesu". Allzu sehr überstrahlen längst Matthäus- und Johannespassion des Zeitgenossen Johann Sebastian Bach das Werk Grauns. Das war aber nicht immer so. Seit seiner Uraufführung im Jahr 1755 in Berlin durch die "Musikübende Gesellschaft" erfuhr es einen solchen jahrzehntelangen Ruhm und wurde bis weit ins 19. Jahrhundert gerade in Berlin so oft aufgeführt, dass ein Kritiker 1879 (!) sich nichts sehnlicher wünschte, als "die ehrwürdige Reliquie irgendwann von der Tagesordnung verschwinden zu sehen." Nun, der Wunsch ging in Erfüllung. Das heißt aber längst nicht, dass es bis heute nicht immer wieder einmal von neugierigen und arrivierten Ensembles wiederentdeckt und neu eingespielt würde. So wie jetzt von den Arcis-Vocalisten München und dem Barockorchester L'Arpa Festante unter Thomas Gropper. Ursula Adamski-Störmer auf den Spuren der historischen Bedeutung des Graun-Oratoriums. Und selbst in der Sekunde des Todes Jesu bleibt das Rezitativ des Betrachters lyrisch, beinahe sanft.
Nein, in Carl Heinrich Grauns Passionskantate "Der Tod Jesu" sucht man den Furor vergebens. Und das ist keine Kritik aus der Sicht des 21. Jahrhunderts. Schon kurz nach seinem Tod im Jahr 1759 kam die Rede vom "sanften Graun" auf. Durchaus bewundernd war das gemeint - auf der einen Seite. Denn die Qualität seiner Musik galt in jener Zeit als ästhetisches opus summum der Empfindsamkeit . Auf der anderen Seite jedoch meinte der Titel des "sanften Graun" aber auch durchaus das Fehlen markanter ästhetischer Erschütterung in seinen Werken. Und genau deshalb galt er, der als Hofkapellmeister Friedrich II. in Berlin vor allem Opern und italienische Kantaten schrieb, als DER Kirchenkomponist par excellence.
Grauns Passionskantate "Der Tod Jesu" ist das NEUE Passionsoratorium. Nach den großen Höhepunkten der Bachschen Oratorien markiert es eine radikale Wende. Weder lassen er und sein Librettist Karl Wilhelm Ramler Evangelisten noch unmittelbar am Passions-Geschehen beteiligte biblische Personen auftreten. Denn genau DAS steht nicht mehr im Mittelpunkt: Die dramatische Erzählung des unmittelbaren biblischen Geschehens. Bei Carl Heinrich Graun geht es um die musikalisch behutsame Umsetzung der individuellen Betrachtung des Geschehens im Sinne der protestantisch-empfindsamen Aufklärung. Jesus als Idealtypus der Tugendhaftigkeit und vollkommenen Liebe. Damit avancierte Grauns Oratorium "Der Tod Jesu" zu einem Klassiker des mittleren 18. und beginnenden 19. Jhdt.
Nach seiner Uraufführung am 26. März 1755 in Berlin begann eine geradezu beispiellose Erfolgsgeschichte des Passionsoratoriums. Kaum eine Karfreitagsmusik in Berlin in den darauf folgenden 130 Jahren ohne dieses Werk. Es ist die Ironie der Geschichte, dass es ausgerechnet Bachs Matthäuspassion war, die - von Mendelssohn wiederentdeckt - dem einstigen passionsoratorischen Hoffnungsträger langfristig von Berlin aus dann doch den Rang ablief.
Umso verdienstvoller ist diese Neueinspielung mit den Arcis-Vocalisten München und dem Barockorchester L'Arpa Festante unter der Leitung von Thomas Gropper. Zusammen mit den drei hervorragenden Solisten Monika Mauch mit klar-leuchtendem Sopran, Georg Poplutz mit lyrisch-hellem, wendigen Tenor und Andreas Burkhart mit geschmeidig-fokussiertem Bariton ist sie ein ausgezeichnetes Beispiel von im besten Sinne "zugewandter Aneignung". Die klare Linienführung der feinen Melodik in den Soli und im Chor, die unaufgeregte Natürlichkeit der Kontrapunktik, die transparent-klangschöne und rhetorisch sattelfeste Klangrede von Chor, Orchester und Solisten dokumentieren auf beeindruckende Weise die Stärken der Partitur: Edle Lauterkeit, schlichte Schönheit und musikalische Wahrhaftigkeit. Es muss also nicht immer Furor sein. Ganz und gar nicht!
Monika Mauch (Sopran)
Georg Poplutz (Tenor)
Andreas Burkhart (Bariton)
Arcis-Vocalisten, München
Barockorchester L’Arpa Festante
Leitung: Thomas Gropper
Label: Oehms Classiscs