Wie ihr Bruder Jörg Widmann ist die Geigerin Carolin Widmann eine faszinierend vielseitige Musikerin, voller Neugier und Tatendrang. Ihr Repertoire reicht von der Barockmusik, die sie auf Darmsaiten spielt, bis zur Avantgarde, die eine Spezialität von Carolin Widmann ist. Die Violinsonaten von Robert Schumann hat sie bereits eingespielt – jetzt folgt das vernachlässigte Violinkonzert, das sie mit dem Standardwerk von Felix Mendelssohn Bartholdy gekoppelt hat.
Bildquelle: ECM
CD-Tipp 10.09.2016
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Gleich im zweiten Takt, ohne Orchestervorspiel setzt der Solist mit seiner zarten Melodie ein - dies ist nur einer von vielen innovativen Aspekten in Mendelssohns e-Moll-Violinkonzert. Carolin Widmann gestaltet diesen Anfang mit ihrem schlanken Ton so schlicht und innig, dass sofort Wehmut aufkommt. Frei im Tempo und dynamisch kontrastreich ist ihr Spiel. Lyrische Inseln wechseln mit seelischen Abgründen, die sie mit dramatischer Spannung auflädt.
Mit ihrer Gestaltungskraft und ihrem vehementen Ausdruckswillen lehrt uns Carolin Widmann Mendelssohn neu hören - eine ungewöhnliche Melancholie liegt über ihrer ausgefeilten Interpretation. In ihrem historisch informierten Ansatz wird sie dabei perfekt vom Chamber Orchestra of Europe unterstützt, das sie von der Geige aus selbst leitet. Da kann man nur staunen! Gemeinsam halten sie Mendelssohns liedhafte Melodik organisch im Fluss.
Mendelssohns Publikumsrenner mit dem verkannten Violinkonzert von Schumann zu kombinieren: Das ist ein ein Coup, ein Stück Wiedergutmachung an beiden Komponisten. Wurde Schumanns spätes d-Moll-Konzert doch von den Nachfahren als Werk eines Geisteskranken unter Verschluss gehalten. Und dann ausgerechnet von den Nazis 1937 aus der Versenkung geholt, als "Ersatz" für das Konzert des Juden Mendelssohn …
Schumann und Mendelssohn – das ist wie Feuer und Wasser. Wie ein Vorgriff auf Bruckner wirkt das grandiose Hauptthema im Kopfsatz von Schumanns Konzert. Energisch und einfühlsam verwirklichen Carolin Widmann und das Chamber Orchestra of Europe Schumanns symphonisches Konzept. Im ätherischen Mittelsatz dringt Widmann in ungeahnte Ausdrucksbereiche vor: Mit bodenlos fahlen, tief empfundenen Tönen trifft sie Schumanns Nerv, seine Poesie, seinen Schmerz.
Schumanns Violinkonzert ist ein Stück Avantgarde – und so spielt es Carolin Widmann auch. Ihr künstlerischer Ernst und ihr Mut zum Risiko sind imponierend. Diese radikal subjektive Einspielung wird polarisieren. Über ihre unausgeglichene Intonation muss man hinweghören, und auch der hallige Klang dieser CD ist gewöhnungsbedürftig. Auf jeden Fall aber ein starkes Statement, das dem auf Hochglanz polierten Klassik-Betrieb guttut!
Felix Mendelssohn Bartholdy:
Violinkonzert e-Moll op. 64
Robert Schumann:
Violinkonzert d-Moll WoO 23
Chamber Orchestra of Europe
Violine und Leitung: Carolin Widmann
Label: ECM