Viele Komponistinnen und Komponisten stellen heute Konzepte in den Vordergrund. Für die gebürtige Israelin Chaya Czernowin - uneitel, unprätentiös - zählt allein das klangliche Resultat. Sie ist laut eigener Aussage "nicht daran interessiert, eine Musik zu komponieren, die unterhält", sie möchte keine Musik schreiben, die "gefällig ist und uns unsere Tage versüßt".
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Der CD-Tipp zum Anhören
So knarzt und kratzt es zum Beispiel in ihrem Stück "Hidden". Das scheucht einen auf und ist nichts zum Nebenbeihören. Was auch an der dynamischen Bandbreite liegt: Kaum wahrnehmbare Wischgeräusche folgen auf Klänge, die nervig fiepen. Laute Passagen lassen einen unvermittelt zusammen zucken. Immer wieder möchte man die Lautstärke erst 'runter- und dann wieder hochpegeln. Chaya Czernowin hat Spaß daran, sich tief 'reinzubohren in emotionale Extreme.
Murmeln, Rascheln und Rauschen
Es spielt das JACK Quartet. Für viele Gegenwartskomponistinnen und -komponisten eine Traumbesetzung. Auch für Chaya Czernowin. Die vier Musiker aus New York spielen Czernowins schemenhafte Klänge so feinsinnig, dass es einem immer wieder Schauer über den Rücken jagt. Klänge, die im Ungefähren schweben. Die einem ins Ohr gehen, dabei aber ständig zu entwischen drohen, weil sie so vor sich hin murmeln, rascheln und rauschen. Genau das macht den Reiz dieser neuen CD und allgemein der Musik von Chaya Czernowin aus: Sie schärft die Wahrnehmung.
Felsige Unterwasserlandschaft
Man will ganz genau hinhören, um ja keinen Klang zu verpassen. Wobei die Komponistin selber eher etwas anderes im Sinn hatte: Sie vergleicht ihr 45 Minuten langes Stück "Hidden" zum Beispiel mit einer felsigen Unterwasserlandschaft voller Vibrationen, die eher gefühlt als gehört werden sollten.
Klingende Landschaft für eine Zimmerpflanze
Während es in "Hidden" für Streicher und Elektronik um das Verborgene, Unsichtbare geht, hat die Komponistin mit "Adiantum Capillus-Veneris" ein Stück geschrieben, das zumindest dem Titel nach in etwas ganz Sichtbarem ankert: Adiantum Capillus-Veneris ist die botanische Bezeichnung für Frauenhaarfarn, auch Venushaar genannt. Und das wiederum ist eine beliebte Zimmerpflanze, findet sich in jedem Büro, jedem Krankenhaus, jeder Schule. Die Musik dazu gleicht aber mehr einer ganzen Landschaft.
Vertonte Zerbrechlichkeit
Geschrieben hat Czernowin dieses intime Stück für Stimme und Atem. Wie lässt sich unser Atem kontrollieren, wie wird daraus Musik? Chaya Czernowin hat darauf eine Antwort gefunden, zu hören auf ihrer neuen CD. Und da jeder von uns atmet, geht einem dieses Stück so nahe - geatmet, geflüstert und gesungen von der israelischen Mezzosopranistin Inbal Hever. Das ist vertonte Zerbrechlichkeit in ihrer schönsten Form.
Auslotung der Stille
Mit ihrer obertonreichen Musik voller Mikrotöne und einem Sinn fürs Verborgene erschafft Chaya Czernowin eine eigene Welt. Ihre Welt. Ihre Musiksprache. Die von feinsten rhythmischen Verästelungen durchzogen ist und in der die Komponistin Stille auslotet, in ihren verschiedensten farblichen und geräuschhaften Abstufungen. Eine Musik, die einem innere Ruhe gibt.
"Adiantum Capillus-Veneris" ("Maidenhair Fern - Frauenhaarfarn, Etudes in Fragility") für Stimme und Atem
"Hidden" für Streichquartett und Elektronik
Inbal Hever (Mezzosopran)
JACK Quartet
Label: Wergo
Sendung: "Leporello" am 18. Dezember 2017, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK