Beim Stichwort "Darmstadt" kommt Kennern und Liebhabern der zeitgenössischen Musik sofort in den Sinn, dass sich diese südhessische Stadt nach dem zweiten Weltkrieg zu einem der wichtigsten Hotspots der Neuen Musik entwickelt hat. 1946 hatte Wolfgang Steinecke, der damalige Kulturdezernent die Idee, in Darmstadt fürderhin "Internationale Ferienkurse" für junge Komponisten, Musiktheoretiker und Interpreten zu veranstalten, die mit ihrer zukunftsorientierten Kunst auch den Ungeist der unmittelbaren Vergangenheit austreiben sollten.
Bildquelle: NEOS
CD Tipp 19.04.2016
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Man knüpfte an die Musik der Neuen Wiener Schule an und bald entfalteten die genialen Vertreter der Seriellen – Boulez, Stockhausen, Maderna oder Nono – ihre Visionen. Später Cage, Kagel, Schnebel oder Lachenmann, Rihm, Kalitzke. Und natürlich sind in den 70 Jahren seit dem Bestehen des internationalen Musikinstituts Darmstadt richtungsweisende Konzerte veranstaltet worden, deren Mitschnitte einen Fundus von musikgeschichtlichem Rang bilden. Nachdem beim Münchner Label NEOS 2010 unter der Überschrift "Darmstadt Aural Documents" eine erste, wichtigen Komponisten gewidmete Box mit sechs CDs erschienen war, dann auch eine zweite, auf das Wirken John Cages konzentrierte, wurde nun die sieben Scheiben umfassende Box Nr. 3 veröffentlicht, die herausragende Ensembles ins rechte Licht rückt - Streichquartette zum Beispiel.
Für Streichquartett zu komponieren schien in den 1950er Jahren zwar mega-out zu sein. Doch – so Walter Levin, der Primarius des singulären LaSalle Quartetts, damals bei den Darmstädter Ferienkursen: "Wir wollten einfach wissen, wie es weiter geht. Bartók, Webern, Schönberg, Berg kannten wir schon. Also bestellten wir eifrig." Etwa beim Römer Franco Evangelisti, dessen filigrane Miniatur "Aleatorio" 1959 erstmals erklungen ist. Neben 36 weiteren repräsentativ und bezwingend komponierten Klangdokumenten aus einer Spanne von rund sechzig Jahren Darmstädter "Spirits" ist diese Aufnahme in der Ensemble-Box zu finden. Für Leute, die interessiert sind an den richtungweisenden Ideen und Entwicklungen in der Kunstmusik seit Mitte des 20. Jahrhunderts (und welcher aufgeschlossene Zeitgenosse möchte das nicht von sich behaupten), ist diese Veröffentlichung ein Muss!
Bestechend dokumentiert z.B. die Aufnahme von Hans Ulrich Lehmanns "Komposition für 19 Instrumentalisten" von aus den Hoch- und Umbruchszeiten des Serialismus etwas von der elektrisierenden Klangkultur des in den 1960er Jahren aktiven Kranichsteiner Kammerensembles unter der Leitung des Erzmusikers Bruno Maderna. Das schön gestaltete Kompendium der Mitschnitte verdeutlicht, wie sehr die Idee flexibler Formationen über die Jahrzehnte von Darmstadt aus beflügelt wurde. Wie sehr avantgardistische Konzepte und innovative Klangwelten in Wechselwirkung mit unkonventionellen Ensembles entstanden; denn sie waren (und sind) es ja, welche oft Kompositionsaufträge vergaben oder improvisatorisch neue Wege erschlossen. In den älteren Aufnahmen ist atmosphärisch etwas zu spüren vom noch ungebrochenen Geist der Suche im Utopischen an der jeweiligen "Grenze des Fruchtlandes". Etwa im happening-nahen "Knocking Piece" des Amerikaners Ben Johnston von 1963 mit den Contemporary Chamber Players.
Die sehr zu empfehlende Edition mit Darmstädter Highlights aus 60 Jahren ist erschienen beim verdienstvollen Münchener Label NEOS. Nicht alle Kompositionen werden jeden überzeugen können. Aber jede und jeder wird klingende Phantasmagorien für sich entdecken, in die es sich lohnt, einzutauchen. Vielleicht z.B. die flirrenden Klangspektren der "Thirteen Dreams ago" für 11 Streicher und zwei Tonbänder von Horatiu Radulescu, gespielt 1977 vom Ensemble Köln.
Verschiedene Werke und Interpreten
Label: NEOS