London, 1712: Georg Friedrich Händel lässt das Queen's Theatre beben, mit seiner Oper "Il pastor fido". Ein Jahr zuvor, am selben Ort, wird Händels erste Londoner Oper "Rinaldo" ein Hit. Und 1735 feiert "Ariodante" in Covent Garden Premiere. Immer im Zentrum des Erfolgs: Kastraten wie Carestini, Valeriano und Caffarelli. Georg Friedrich Händels fantastisch melodiöse und exorbitant virtuose Arien waren schon immer das Fundament, auf dem seine Opernerfolge basierten. Und die Bühnenstars des Barock, die Kastraten, waren der Garant dafür, dass die Stücke beim Publikum einschlugen wie eine Bombe.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
Der CD-Tipp zum Anhören
Lange schon gibt es keine Kastraten mehr, lange lagen darum auch Händels Opern im Dornröschenschlaf. Es brauchte die Alte-Musik-Bewegung und es brauchte die Countertenöre von heute, um die Musik wieder ähnlich zu denken, zu hören und aufzuführen wie anno 1700 in London. Seit David Daniels und Andreas Scholl, seit Philippe Jaroussky, Max Emanuel Cencic und Bejun Mehta klingen sie wieder an allen Ecken: "Xerxes", "Ariodante" und Co. Und jeder Countertenor, so sieht es aus, muss sich zeigen, sich in der Öffentlichkeit beweisen, mit "seinem" Händel-Album. "Noch eins?", fragt man sich manchmal.
Doch wenn man Händel für die CD singt, wie jetzt der argentinische Countertenor Franco Fagioli, dann geht es nicht (oder nicht nur) um ein Album, das sich garantiert gut verkauft, weil wir alle von "Scherza infida" oder "Cara sposa" nie genug bekommen können. Es geht schon genau ums Detail, um jede Note und ihren Sinn im Ganzen. Um die heikle Interpretationskunst bei dieser Musik, um das musikgeschichtliche und stilistische Wissen dahinter und - ganz gnadenlos und unverhüllt - um das sängerische Können. Händels endlose Legatobögen und vor allem seine Koloraturen und die dazu nötigen improvisierten Verzierungen sind und bleiben halsbrecherisch schwer.
Franco Fagioli und das kleine Instrumentalensemble Il pomo d'oro sind musikalisch und interpretatorisch absolut auf Zack. Fagioli hat sich aus Händels Oeuvre die zwölf Arien herausgepickt, die ihm persönlich am meisten bedeuten. Hits sind dabei, aber auch unbekanntere Stücke aus "Partenope", "Oreste" und "Imeneo". Alle füllt der Argentinier emotional und gesanglich mit Exzellenz, selbst bei den aberwitzig virtuosen Stücken bleibt die Stimme verblüffend frei und flexibel, lässt sich nach Belieben hoch und runter schlängeln, wie an einem unsichtbaren Faden durch die Luft wirbeln. Das ist stimmlich große Klasse und stilistisch sorgsam, kein Zurschaustellen von Bravour, keine stolzgeschwellte Brust nach dem Motto "seht her, was ich kann".
Auch die langsamen Arien gelingen Franco Fagioli wunderbar spannungsvoll und fließend, mit großem Atem und schillernden Klangfarben. Was mehr sein dürfte, deutlich, sind die im Barock gerade in den langsamen Stücken zwingend notwendigen Ausschmückungen der Melodielinie, die kleinen und gegen Ende jeder Arie auch größeren Verzierungen, die rhetorischen Gesten, die diese Musik erst in ihrer ganzen Vielfalt zum Sprechen bringen. Aber sei's drum, es darf ja auch mal ein Wunsch offen bleiben…
Georg Friedrich Händel:
Opernarien aus "Oreste", "Serse", "Rinaldo", "Imeneo", "Il Pastor fido", "Rodelinda", "Giulio Cesare in Egitto", "Ariodante", "Partenope"
Franco Fagioli (Countertenor)
Zefira Valova (Violine)
Il Pomo d'Oro
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Leporello" am 15. Januar 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK