Die Musik gerät auf schwankenden Boden. Das Ende der Tonalität zeichnet sich ab. Die Akkorde schweben, finden nicht mehr ins Dur-Moll-System zurück, alles entsprießt einem neuen harmonischen Nährboden. Im Albumblatt op. 58 aus dem Jahr 1910 taucht jene typische Skrjabin-Harmonik auf, an der man viele seiner Spätwerke erkennen wird. Und Vladimir Horowitz lässt diese Klänge wunderbar in der Schwebe. In den legendären New Yorker Columbia Studios ist diese Aufnahme 1972 entstanden.
Bildquelle: Sony Classical
CD Tipp 18.0502015
Vladimir Horowitz spielt Skrjabin
In Kiew 1903 geboren, erlebte Horowitz schon im Kindesalter den Skrjabin-Rausch, den der Farb-Synästhetiker, Pianist und Komponist in seinem Heimatland weit über Fachkreise hinaus auslöste. Im Zuge der familiären Kontakte zur musikalischen Elite von Kiew, lernte Horowitz auch den Komponisten selbst noch kennen und spielte ihm als 11-Jähriger vor. Dennoch meinte Horowitz später, dass er in den jungen Jahren kaum Musik von Skrjabin gespielt habe. Ihm sei damals Rachmaninow näher und Skrjabin „ein bisschen zu philosophisch, zu mystisch“ gewesen. Als Horowitz jedoch 1939 Europa den Rücken kehrte und in die Vereinigten Staaten übersiedelte, wurde Skrjabins Ouevre wieder wichtiger und präsenter. 1956 nahm er seine erste Skrjabin-Langspielplatte auf und führte in den 60er und 70er Jahren seine Missionsarbeit im Konzertsaal und im Studio fort.
Die auf der nun vorliegenden Edition zusammengefassten Aufnahmen von 1950 bis 1976 sind alle von Horowitz autorisiert und hervorragend remastered. Sie zeichnen faszinierend zwei Entwicklungslinien nach: zum einen im Hinblick auf die Werke Alexander Skrjabins, die Horowitz ausgewählt hat, zum anderen im Bezug auf den Pianisten und seine interpretatorische Aussagekraft. Dies wird besonders anschaulich, wenn man die beiden sehr unterschiedlichen Live-Mitschnitte der Klaviersonate Nr. 9 aus den Jahren 1953 und 1965 vergleicht. Fast drei Minuten langsamer, konturierter und in sich spannungsgeladener spielt Horowitz das Werk auf der jüngeren Aufnahme, die er selbst unbedingt bevorzugte. Zu hören sind in dieser Box darüber hinaus die Klaviersonaten Nr. 3 und 5 sowie ausgewählte Préludes, Études und Poèmes. Und dass Horowitz in seinem Skrjabin-Spiel gleichzeitig viele Töne oder Stimmen sehr differenziert hervorbringen kann, mal virtuos und dann wieder äußerst verinnerlicht, macht diese Edition zum Ereignis und zur bestechenden Hommage an einen herausragenden Pianisten und zudem an einen außergewöhnlichen Komponisten.
Klaviersonaten Nr. 3, 5, 9 und 10
Ausgewählte Préludes, Poèmes und Etüden
Vladimir Horowitz (Klavier)
Label: Sony Classical