Diese ungewöhnliche CD-Box bündelt drei ultimative Werke. Jedes ist nicht nur für sich ein unausschöpfliches Kunstwerk, sondern auch eine Demonstration an die Mit- und Nachwelt.
Bildquelle: Sony Classical
CD Tipp 19.10.2015
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Bach setzte die monumentalen Goldberg-Variationen an den Schluss seiner mehrbändigen "Klavierübung", die er in repräsentativer Form drucken ließ. Auch die Publikation von Beethovens nicht weniger großdimensionierten Diabelli-Variationen war als Geste der kreativen Überlegenheit gedacht. Der Verleger Anton Diabelli hatte die wichtigsten österreichischen Komponisten gebeten, je eine Variation über einen kleinen Walzer zu schreiben. Beethoven schrieb gleich 33. Die Variationen aller übrigen Komponisten erschienen in einem Band, Beethovens Werk beanspruchte einen eigenen. Er allein wog sozusagen das gesammelte Können seiner Zeitgenossen auf.
Der amerikanische Komponist Frederic Rzewski schließlich war Mitte der 1970er Jahre tollkühn genug, sich mit seinen Variationen über das chilenische Revolutionslied "The people united will never be defeated" in diese Tradition zu stellen. In den Jahren nach dem rechten Militärputsch gegen den gewählten chilenischen Präsidenten Salvador Allende war das Werk natürlich auch eine politische Demonstration. Und doch geht es weit über den historischen Anlass hinaus: Es ist, ebenso wie die Variations-Werke von Bach und Beethoven, eine Hommage an die Grenzenlosigkeit der menschlichen Phantasie.
Alle drei Werke haben etwas Irrwitziges. Jedes geht aus von ganz einfachem Material: Bach von einer empfindsamen Aria, Beethoven von einem simplen Walzer, Rzewski von einer pathetischen Revolutionshymne. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln der Klaviertechnik bauen sie daraus eine Welt. Doch nach den Irrfahrten der vielgestaltigen Variationen kehrt jedes der drei Werke zurück zum Ausgangspunkt der Reise: Das Thema bleibt selbst in den aberwitzigsten Verwandlungen gegenwärtig, Symbol der Einheit in der Vielfalt.
Bach schrieb 30, Beethoven 33, Rzewski 36 Variationen: Drei ultimative Kompendien der musikalischen Verwandlungskunst. Jedes hält extreme Herausforderungen an die technische und geistige Virtuosität des Interpreten bereit. Dass Igor Levit diese drei demonstrativen Zyklen nun gleich alle auf einmal vorlegt, jeden in einer exemplarischen Interpretation, ist natürlich ebenfalls eine nicht gerade unbescheidene Geste.
Technisch steht er auf ziemlich einsamer Höhe, die Präzision seines Spiels sucht ihresgleichen. Levit spielt in sozusagen hochauflösender Detailtreue. Bei Bach wirkt das, aller mitreißenden Spielfreude und aller meditativen Ruhe zum Trotz, manchmal fast eine Spur artifiziell. Nichts davon bei Beethoven. Hier ist Levit für mein Empfinden emotional noch freier, hier teilt sich ganz unmittelbar ein selbstvergessenes Aufgehen in der Musik mit: Disziplin und Lust, Gesetzmäßigkeit und Spontaneität finden glücklich zusammen. Levit spielt spirituell und rabiat, verinnerlicht und kauzig, mit einem Wort: hinreißend. Und die Konfrontation mit dem selten gespielten Zyklus von Rzewski ist ein Coup, für den man diesem abenteuerlustigen Pianisten nur danken kann. Eine CD-Box im Superlativ, ein pianistisches Ereignis.
Johann Sebastian Bach:
Goldberg-Variationen, BWV 988
Ludwig van Beethoven:
Diabelli-Variationen, op. 120
Frederic Rzewski:
The poeple united will never be defeated
Igor Levit (Klavier)
Label: Sony Classical