Das 17. Jahrhundert stellte die Kirchenmusiker vor besondere Herausforderungen. Bei seinem Opus V fand der Augsburger Domkapellmeister Johann Melchior Gletle dafür kreative Lösungen.
Bildquelle: Pan Classics
Die Kostprobe vom 10. Januar 2016
Johann Melchior Gletle
Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts ist von den Folgen des 30-Jährigen Krieges noch schwer gezeichnet. Auch für die Musik hat dies Auswirkungen: Vielerorts sind die Ensembles nur unzureichend besetzt. Die Aufführung prachtvoller Kirchenmusik im konzertierenden Stil erfordert jede Menge Einfallsreichtum. Ein Talent, das man ihm unbedingt zusprechen kann: Johann Melchior Gletle, 1626 im schweizerischen Aargau geboren und fast 30 Jahre lang Kapellmeister am Hohen Dom zu Augsburg. Sein Opus 5, ein Motettenband aus dem Jahr 1677, erscheint nun auf CD. Das Ensemble musica fiorita feiert damit den Abschluss ihres Jubiläumsjahres zum 25-jährigen Bestehen. Teile des Werks waren bereits auf vorausgegangenen Alben veröffentlicht worden, nun erscheinen alle 36 Stücke als CD-Box.
Der Sakralmusikdruck Expeditones musicae veranschaulicht in beeindruckender Weise Gletles Kenntnis um die Erfordernisse der Zeit und seine Vertrautheit mit dem angesagten, italienischen Stil. Gletle war ein Praktiker. Aus seiner Erfahrung als Domkapellmeister zu Augsburg wusste er wohl um die Besetzungsschwierigkeiten, mit denen sich die Ensembles seit dem 30-jährigen Krieg konfrontiert sahen. Musiker und Instrumente waren oft nicht ausreichend verfügbar. Bei der Aufführung der prachtvoll angelegten Kirchenmusik aus Italien war Flexibilität gefragt. Gletle bietet also die solistischen Gesangsstimmen in mehreren Stimmumfängen an. Er tut dies mit sorgfältiger Rücksicht auf die in der mitteltönigen Stimmung sehr unterschiedliche Qualität der einzelnen Tonarten. Dem Sologesang ordnet er meist nur zwei Instrumentalstimmen zu, die außerdem variabel besetzt werden können. Weitere Stimmen können, müssen aber nicht besetzt werden. Und alternative Textversionen ermöglichen sogar den Einsatz der Stücke zu mehreren Gelegenheiten im Kirchenjahr. Der Kirchenmusiker unserer Tage dürfte diese flexible Gestaltung Gletles durchaus wieder zu schätzen wissen.
Das Ensemble Musica fiorita unter Leitung von Daniela Dolci wird dieser Vielseitigkeit gerecht. Kontrastreich heben sich ariose Momente von eher rezitativisch gestaltenden Passagen und instrumentalen Ritornellen ab. Für Abwechslung sorgt darüber hinaus die Besetzung: Insgesamt zehn unterschiedliche Sängerinnen und Sänger sind als Solisten zu hören. Die Instrumentalbesetzung wechselt ganz im Sinne Gletles von Stück zu Stück. Für den Hörer besonders anschaulich sind die Alternativversionen, die das Ensemble von dem Stück Triumphale canticum bietet: einmal für Alt und alternativ für Sopran und den damals nicht selbstverständlich besetzten Trompetenstimmen.
Gletles flexibler Umgang mit der Musik ist dabei nicht als Willkür zu verstehen. Im Gegenteil: für die Zeit ungewöhnlich präzise setzt er Dynamik- und Vortragsbezeichnungen. Seine konzertierenden Solomotetten sind stilistisch auf der Höhe der Zeit und verlangen vom ausführenden Ensemble musikalisches Können auf oberstem Niveau. Mit ihrem Klangfarbenreichtum und der lebendigen Interpretation wird die musica fiorita-Einspielung diesem Anspruch gerecht. Johann Melchior Gletle aus der Kleinmeisterecke des 17. Jahrhunderts zu holen, auch das sehen die Musiker dabei als ihre Mission. Die Zeit dafür ist reif!
Musica fiorita, Leitung: Daniela Dolci
Label: Pan Classics