Wenn sie sich auf etwas einlässt, dann mit Haut und Haaren. Eigentlich spielt Patricia Kopatchinskaja zeitgenössische Musik. Die Klassiker und Romantiker findet sie „unnötig durchgekaut, von jedem, der nicht zu faul war, Geige zu üben“. Es brauchte schon den unkonventionellen Teodor Currentzis und seine wilde Musiker-Truppe aus dem sibirischen Perm, MusicAeterna, um Patricia Kopatchinskaja für Tschaikowskys Violinkonzert zu gewinnen.
Bildquelle: Sony Classical
CD-Tipp 13.01.2016
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Und so haben Kopatchinskaja und Currentzis diesen Geigen-Evergreen neu gelesen, nächtelang geprobt und jede Note einzeln diskutiert, nach ihrem Sinn gefragt, nach ihrer Bedeutung gefahndet.
Patricia Kopatchinskaja erschließt sich Tschaikowskys Violinkonzert über ihre Gefühle, über Sehnsüchte, Melancholie, innere Zerrissenheit. Natürlich geigt sie das Stück auch technisch perfekt, vor allem aber schlendert sie in ihren Gedanken durch das winterliche Petersburg, mit Puschkin und Dostojewskij im Hirn, mit Bildern und Geschichten von der Eremitage und den verschneiten Straßen im Herz. Beim ersten Einsatz der Geige fühle sie sich wie eine Debütantin auf einem großen Ball, unsicher, scheu, aufgeregt. Ein wenig wie Tatjana vor Onegin: "Ich stehe im kalten Winter draußen auf der Straße, atme auf das zugefrorene Fenster."
"Für mich hat Musikmachen viel mit Kochen für Freunde zu tun. Viele bevorzugen heutzutage fast food. Ich ziehe es vor, mit Freunden in meiner Küche zu sein, herumzuprobieren und neue Rezepte zu entwickeln", sagt Patricia Kopatchinskaja. Und wie sie kocht, so geigt sie. Nichts ist bei der eigenwilligen Frau, die aus Moldawien stammt und in Österreich lebt, vorgefertigt. Jede einzelne Note geht durch ihr Hirn, ihr Herz und ihre Hände, bevor sie sie öffentlich aufführt. Patricia Kopatchinskaja entspricht in vielem nicht dem klassischen Klischee der geigenden Anmut, manche nennen sie – anerkennend – eine "musikalische Wildsau". Weil sie gegen die Harmlosigkeit anspielt, gegen das Normale und das Belanglose. Weil sie nichts tut, um zu gefallen. Schlechte Kritiken sammelt sie auf ihrer Webseite unter der Rubrik Trashbin" (Mülleimer), nicht ohne sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen.
Und so huscht, wandert, stolpert, trottet und stolziert Patricia Kopatchinskaja durch Tschaikowskys Konzert, dass man an manchen Stellen wie neu hört, mit spannenden Parallelen zur Vierten,Fünften und Sechsten Symphonie, zu "Eugen Onegin" und "Pique Dame". Dafür sind natürlich auch der musikalische Wahrheitsfinder Teodor Currentzis und seine experimentierfreudige MusicAeterna aus Perm verantwortlich. Klar, unmittelbar und bloß, manchmal fast struppig klingt ihr Tschaikowsky, aber der Vorteil liegt auf der Hand: Hier wird ein klischeebehafteter Ohrwurm von seiner Patina befreit, die eigentliche Substanz kann wieder atmen und Tschaikowskys Violinkonzert erlebt so etwas wie einen zweiten Frühling. "Ich bitte dich um diesen Klang," schreibt Currentzis an Kopatchinskaja, "den 'bitteren' klang von Darmsaiten. Nicht den gefälschten, polierten Klang, sondern den wahrhaftigen, demütigen."
Ach ja, und dann gibt es auf dieser neuen CD auch noch Igor Stravinskys "Les Noces", aber das ist eine andere tolle Geschichte…
Peter Tschaikowsky:
Violinkonzert D-Dur, op. 35
Igor Stravinsky:
"Les Noces"
Patricia Kopatchinskaja (Violine)
MusicAeterna
Leitung: Teodor Currentzis
Label: Sony Classical