Er war der letzte jenes legendären Jahrgangs 1912, der so viele bedeutende Dirigenten hervorbrachte, unter ihnen Georg Solti, Günter Wand, Sergiu Celibidache und Erich Leinsdorf. Kurt Sanderling mag der Unauffälligste in dieser illustren Reihe gewesen sein, aber er gehörte zu den großen Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.
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Der CD-Tipp zum Anhören
Allem Glamourösen misstraute er zutiefst, das Wort Pultstar hätte er, auch wenn er auf seine Art sehr wohl einer war, nur mit milde verständnislosem Lächeln quittiert. Bis zu seinem letzten Konzert, das er im Mai 2002 dirigierte, entwickelte dieser große Künstler unaufgeregt und uneitel seine glasklaren, jahrzehntelang erprobten musikalischen Vorstellungen und Konzepte. Auch wenn die Sanderling-Diskographie weiß Gott nicht klein ist: Die jetzt bei der Edition Günter Hänssler erschienenen elf CDs mit Symphonien und Konzerten von Beethoven, Bruckner, Brahms und Rachmaninow bieten spannende neue Einblicke, etwa die ersten beiden Klavierkonzerte Rachmaninows mit Swjatoslaw Richter in Aufnahmen aus den 50er-Jahren.
Allein Sanderlings Biographie ist faszinierend. 1912 im damaligen Ostpreußen als Kind jüdischer Eltern geboren, geht er mit sechzehn nach Berlin, erlebt als junger Korrepetitor an der Städtischen Oper mit Klemperer, Furtwängler und Bruno Walter die Großen seiner Zeit. 1936 kann Sanderling in die Sowjetunion emigrieren. Er nimmt die sowjetische Staatsbürgerschaft an, bleibt ein Vierteljahrhundert, überlebt Krieg und stalinistischen Terror und ist dem Land ewig dankbar dafür, dass es ihn aufnahm und seine große Karriere ermöglichte. Neben dem legendären Jewgenij Mrawinski wird Sanderling zweiter Chefdirigent der Leningrader Philharmoniker. 1960 erlaubt man ihm die Rückkehr in die Heimat. Er übernimmt die Leitung des Ostberliner Symphonie-Orchesters und erweist sich als exzellenter Orchestererzieher, der sich treu und unbeirrbar an "seine" Berliner bindet. Wie erfolgreich die lange Zusammenarbeit war, dokumentiert die neue Edition mit breit strömenden, aber immer ungemein spannungsvollen und energiegeladenen Deutungen der vier Brahms-Symphonien von 1990.
Die Brahms-Aufnahmen entstammen jener Zeit, in der Sanderling – nach seiner Pensionierung – eine bemerkenswerte Alterskarriere erlebte, ähnlich seinem Altersgenossen Günter Wand. Frei von allen administrativen Bindungen dirigierte er, bis er sich 2002 vom Dirigentenpult verabschiedete, in aller Welt eine kleine Zahl sorgsam ausgesuchter Orchester. Als großen Sachwalter insbesondere der klassischen und romantischen Symphonik konnte man ihn erleben, regelmäßig auch mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Auch dies dokumentiert die schöne neue Sanderling-Edition, mit einem großartigen Mitschnitt der Vierten Symphonie von Bruckner aus dem Jahr 1994.
Symphonien und Konzerte von
Beethoven, Bruckner, Brahms und Rachmaninow
Swjatoslaw Richter (Klavier) und andere Solisten
Diverse Orchester
Leitung: Kurt Sanderling
Label: Profil – Edition Günter Hänssler
Sendung: "Leporello" am 21. September 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK