Eine CD mit Konzept! Maria und Nathalia Milstein sind Schwestern, die eine Geigerin, die andere Pianistin. Für ihre Debüt-CD haben sie sich nicht nur mit Musik beschäftigt, sondern auch mit Literatur: Alle Stücke darauf beziehen sich auf den Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust. Ein Konzeptalbum braucht auch einen Titel. Das der Milstein-Schwestern heißt: "Die Sonate von Vinteuil". Damit beteiligen sie sich an einem Rätselspiel, das schon viele Musik- und Literaturfans beschäftigt hat: Wer verbirgt sich hinter der Figur des Komponisten Vinteuil aus Prousts Roman?
Bildquelle: Mirare
Der CD-Tipp zum Anhören
Sieben Bände. Über 4.000 Seiten. Sätze, die sich verzweigen wie ein Flussdelta. Sätze, so lang wie der Nil. Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" ist ein anmutiges Ungetüm. Mehr als zehn Jahre lang, von 1909 bis zu seinem Tod 1922, schrieb er daran. Und auch die Lektüre erfordert einiges an Lebenszeit. Die ist aber keineswegs verloren - ganz im Gegenteil. Wie unendlich reich dieses Buch ist, beweist auf musikalische Weise die schöne Debüt-CD von Maria und Natalia Milstein.
"Die Sonate von Vinteuil" steht auf dem Cover - aber ist sie auch auf der CD zu hören? Gute Frage, denn Vinteuil ist eine fiktive Figur aus Marcel Prousts großem Roman - ein Komponist, der selbst gar keine so große Rolle spielt. Viel wichtiger für die Handlung des Romans ist eines seiner Werke, eine Violinsonate, genauer gesagt, ein bestimmtes Thema daraus. Für Swann, eine der Hauptfiguren aus dem Romankosmos, verkörpert diese kleine Melodie, "la petite phrase", seine Liebe zu Odette. Zehnmal, zwanzigmal lässt Swann seine Geliebte die Melodie spielen - und dabei küssen sich die beiden ununterbrochen. Selbst viele hundert Seiten später, als Swanns Liebe zu Odette längst erloschen ist, liegt für ihn noch immer ein unerklärlicher Zauber in diesen Tönen. Für Prousts Romanfigur sind sie ein "Refrain des Glücks". Aber wie klingt jene "petite phrase"?
Proust hat in seinem großen Roman Bausteine aus seinem eigenen Leben verwendet und in einen literarischen Kosmos verwandelt. Und so rätselten schon seine Freunde, welche reale Musik ihn zu jener fiktiven "Sonate von Vinteuil" inspiriert haben könnte. Proust selbst hatte Freude an diesem Ratespiel und gab sogar einen Hinweis. Die "hübsche, aber letzten Endes mittelmäßige" Violinsonate Nr. 1 von Camille Saint-Saëns habe ihm als Vorlage gedient, schrieb er. Die Milstein-Schwestern konfrontieren dieses übrigens keineswegs mittelmäßige Werk mit anderen Kandidaten, etwa der kaum bekannten, meisterhaften Sonate von Gabriel Pierné.
Die "wahre" Sonate von Vinteuil und die "echte" kleine Melodie bleiben natürlich ein Werk der Einbildungskraft: Sie existieren allein in Prousts Roman, beschworen von seiner suggestiven Sprache. Es geht in dieser CD also nicht um eine literaturgeschichtliche These, sondern um ein assoziatives Spiel mit der Phantasie. Und deshalb passen auch die beiden Lied-Transkriptionen von Reynaldo Hahn perfekt zum Konzept: Nicht nur, weil sie zum Träumen einladen, sondern auch, weil Hahn ein Freund von Proust und zeitweise auch sein Lebenspartner war. Die Debussy-Sonate schließlich, eines der Hauptwerke der französischen Kammermusik, hat Proust ganz sicher nicht als Modell gedient, sie entstand aber zur gleichen Zeit wie "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Und in ihrer Verbindung von Präzision und Traumhaftigkeit ist auch Debussys Sonate mit Prousts Werk wahlverwandt.
Maria und Nathalie Milstein bewältigen alle technischen Herausforderungen souverän und sind auf ihrer Suche nach der verlorenen Melodie stets intensiv dem Geist der Werke auf der Spur. Um den zu treffen, entfalten sie ein reiches und durchdachtes Spiel der Klangfarben. Vor allem in den langsamen Sätzen lässt Maria Milstein ihre Geige wunderbar atmen - so dass man, wie Proust in seinem Roman schreibt, fast "die Illusion gewinnt, eine Sängerin" zu hören.
Gabriel Pierné:
Violinsonate op. 36
Reynaldo Hahn:
"A Chloris"; "L'Heure Exquise"
Camille Saint-Saëns:
Violinsonate Nr. 1, op. 75
Claude Debussy:
Violinsonate
Maria Milstein (Violine)
Nathalia Milstein (Klavier)
Label: Mirare
Sendung: "Leporello" am 8. November 2017, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK
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