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CD - Louis Vierne: Violinsonate, Klavierquintett

Nein, glücklich kann man dieses Leben wohl kaum nennen. Louis Vierne wurde 1870 fast blind geboren. Mit sieben Jahren konnte man ihm eine künstliche Linse einsetzen, sodass er groß gedruckte Schrift lesen und sich auch außerhalb des Hauses selbständig bewegen konnte. Vierne lernte Klavier und Orgel und wurde Schüler von César Franck. Als Organist und mit Kompositionen für sein Instrument kam er schnell zu großer Anerkennung. Doch ab 1906 brach eine Serie heftigster Schicksalsschläge über ihn herein.

Bildquelle: Accentus

CD Tipp 29.04.2016

Der CD-Tipp zum Nachhören!

Nach einem Sturz mit mehrfachem Beinbruch entgeht er nur knapp ein Amputation; kurz darauf bekommt er Typhus; seine Ehe wird geschieden; um sein Augenleiden behandeln zu können, muss er fast seinen gesamten Besitz verkaufen; im Ersten Weltkrieg fällt sein Bruder; sein Sohn Jacques lehnt sich in der Armee gegen die sinnlosen Grausamkeiten auf, ein Kriegsgericht lässt ihn hinrichten.

Ein Pedalton zum Lebensende

Und so geht es weiter. Wenn man das informative CD-Booklet liest, kann man nur staunen über die gnadenlose Bösartigkeit, mit dieses Schicksal immer wieder zuschlug - bis hin zu Viernes letztem Konzert 1937 in der Pariser Kathedrale von Notre Dame. Es war sein 1750. Orgelkonzert. Vierne war mittlerweile nahezu völlig erblindet, schwerkrank und innerlich gebrochen. Man musste den erst 66-jährigen die Treppe zur Orgelempore hochtragen. Nachdem er seine letzte Orgelkomposition gespielt hatte, erlitt er einen Gehirnschlag. Nur ein Pedalton blieb stehen: Vierne war darauf gefallen. Er stand nicht mehr auf.

Tief empfundene Musik

Für Organisten ist Louis Vierne eine feste Größe. Seine Kammermusik ist dagegen kaum bekannt. Die Violinsonate schrieb Vierne für den großen Virtuosen Eugène Ysaÿe, der schon die berühmte Violinsonate von César Franck uraufgeführt hatte – und sich spontan in das Werk von dessen Schüler verliebte. Viernes Sonate ist tief empfundene Musik mit reicher Harmonik, farbig und stimmungsvoll, und kontrastiert weitgespannte lyrische Melodien mit motorischer Energie. Das Stück wird so gut wie nie gespielt – eine wirklich lohnende Entdeckung.

Zwischen Verzweiflung und Auflehnung

Noch gewichtiger ist das Klavierquintett. Vierne schrieb es 1917, unmittelbar nachdem sein Sohn vom französischen Militär standrechtlich hingerichtet worden war. Es ist schwerblütige Musik, oft klanggewaltig, dann wieder nah am Verstummen, schwankend zwischen Verzweiflung und Auflehnung. 

Zu Unrecht vergessen

Die isländische Geigerin Judith Ingolfsson und der aus Russland stammende Pianist Vladimir Stoupel haben sich in den letzten Jahren intensiv mit Komponisten beschäftigt, die unter dem Ersten Weltkrieg leiden mussten. Man spürt in ihrem Spiel die große Identifikation, ja die Begeisterung für diese zu Unrecht vergessene Musik, mit der das Duo im Klavierquintett auch die Streicherkollegen Rebecca li, Stefan Fehlandt und Stephan Forck angesteckt haben. Die CD mit den beiden kammermusikalischen Meisterwerken von Louis Vierne bildet den Auftakt zu einer kleinen Serie. Und so sensibel und leidenschaftlich, wie Ingolfsson und Stoupel auf dieser Aufnahme spielen, darf man sich schon jetzt auf die beiden folgenden CDs mit Musik von Albéric Magnard, Rudi Stephan und Gabriel Fauré freuen. Ein tolles Projekt.

Louis Vierne: Kammermusik

Violinsonate g-Moll, op. 23
Klavierquintett c-Moll, op. 42

Judith Ingolfsson (Violine)
Vladimir Stoupel (Klavier)
Rebecca Li (Violine)
Stefan Fehlandt (Bratsche)
Stephan Forck (Violoncello)

Label: Accentus

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