Die Geschichte von Lucas Debargue, wie sie sein Label erzählt, klingt drehbuchreif. Der Außenseiter als erst verkanntes, dann gefeiertes Genie, misstrauisch beäugt von den musikalischen Sachbearbeitern des akademischen Betriebs. Blass schaut er aus, Brille, dünner Oberlippenbart: ein Nerd, der sich seine Virtuosität mit Hilfe des Internets angeblich quasi selbst beigebracht hat.
Bildquelle: Sony Classical
CD Tipp 21.04.2016
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Ein Rebell, der erst mit elf Jahren Klavierunterricht bekam. Der mit 17 keine Lust mehr hatte, jobbte, Literatur und Kunst studierte und ein paar Jahre nur noch Jazz spielte, um dann mit Anfang 20 wieder zielstrebig zu üben. Und prompt vier Jahre später beim legendären Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau durchstartet. Den 4. Platz bekommt er 2015 und den Preis der Musikkritiker.
Die Jury zerstreitet sich. Pianist Boris Berezowsky nennt ihn ein Genie, Jury-Kollege Michel Béroff bezweifelt öffentlich die Professionalität des unkonventionellen Franzosen. Und was macht Lucas Debargue? Er gibt provozierende Interviews. Klavierspielen, das lerne man eigentlich nicht von Lehrern, sondern direkt von den Komponisten. Später ergänzt er: Natürlich brauche jeder angehende Pianist professionellen Unterricht und einen Mentor. Für Debargue war es die russische Professorin Rena Schereschewskaja, die ihn nach seiner kreativen Pause durch einen Zufall entdeckte, offenbar sofort sein Talent erkannte und auf den Tschaikowsky-Wettbewerb vorbereitete. Auf Youtube kann man ihn sehen, wie er im Finale die Schultern hochzieht, wie seine Mimik arbeitet, die Lippen jede Phrase mitsprechen. Und dann macht man irgendwann die Augen zu und versucht, den ganzen Hype zu vergessen, weil man wissen will: Genie hin, Rebell her – wie steht es um die musikalische Substanz?
Mit seiner ersten CD-Veröffentlichung stellt sich Lucas Debargue der neugierigen Öffentlichkeit mit einem Programm quer durch die Epochen: Vier Scarlatti-Sonaten, eine Chopin-Ballade, der Mephisto-Walzer von Liszt und Ravels "Gaspard de la nuit", eines der schwierigsten Werke der Literatur. Und zwar manuell und psychologisch: Die Zwischentöne sind fast noch schwerer zu treffen als die Töne. Lucas Debargue hat einen Klavierabend in der gnadenlos trockenen, magisch transparenten Akustik der Pariser Salle Cortot live mitschneiden lassen. Und erweist sich als faszinierend sensibler Gestalter. Den dritten Satz von Gaspard de la nuit, ein irrwitzig virtuoses Porträt eines unheimlichen Gnoms, spielt er mit ganz wenig Pedal – und legt so Ravels harmonische Hexereien wie unter der akustischen Lupe offen. Wodurch das Stück paradoxerweise noch viel atmosphärischer wirkt, als wenn die Tonkaskaden durch den Nachhall des Pedals akustisch aufgemotzt werden. Auch in den mal verspielten, mal versonnenen Scarlatti-Sonaten legt Debargue mit hochsensibler, dabei nie aufgesetzter Gestaltung ein Maximum an psychologischen Zwischentönen frei. Die Phrasen sprechen, das Spiel wirkt spontan und stimmig zugleich – und bei allem Mut zur Subjektivität nie manieriert.
Dieser ungewöhnliche Pianist mag eine unkonventionelle Technik haben. Und manche Eigenwilligkeit wird er in Zukunft vielleicht noch schlüssiger in den Dienst des Werkes stellen. Aber entscheidend ist: Lucas Debargues kann nicht nur Erstaunliches am Klavier, er hat etwas zu sagen. Und zwar nicht nur über sich selbst. Weil er ganz offenbar die Fähigkeit hat, im inspirierten Augenblick in die Musik einzutauchen, mit ihr zu verschmelzen. Den Mann sollte man im Auge behalten.
Domenico Scarlatti:
Klaviersonaten K. 24, 132, 141, 208
Frédéric Chopin:
Ballade Nr. 4
Franz Liszt:
Mephisto-Walzer Nr. 1
Maurice Ravel:
Gaspard de la nuit
Edvard Grieg:
Melodie op. 47 Nr. 3
Franz Schubert:
Moment musical D. 708 Nr. 3
Scarlatti / Debargue:
Variationen über die Sonate K. 208
Lucas Debargue (Klavier)
Label: Sony Classical