Die Lust am Verbotenen ergriff den in Algier lebenden, französischen Teenager Martial Solal Anfang der 1940er Jahre, als er das erste Mal eine Swing Big Band im Radio hörte. Der klassische Klavierschüler und Sohn einer Opernsängerin wurde Jazzpianist – einer der bedeutendsten Europas mit großem, bis in die USA reichenden Ruf. Auch mit 90 Jahren gibt er noch mitreißende Konzerte; eines davon ist jetzt auf CD erschienen.
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Der CD-Tipp zum Anhören
Mit "Have you met Miss Jones" beginnt Martial Solal den Abend im Theater Gütersloh, und skizziert schon im ersten Takt die Melodie. Es ist natürlich sehr schön, wenn man als Jazzfan im Konzert einen Klassiker sofort erkennt. Aber noch schöner ist, dass derjenige, der diese Erkenntnis als hors d´œuvre auf dem tönenden Silbertablett serviert hat, dann alles daran setzt, das Altbekannte und Beliebte permanent neu und überraschend zu arrangieren. Aus dem Moment heraus, mit viel Persönlichkeit und Witz, dabei virtuos auf eine fast beiläufige Art, nie verlegen um eine aufregende Dissonanz oder eine Reminiszenz aus der klassischen Moderne tut das Martial Solal im Solokonzert, wenige Monate nach seinem 90sten Geburtstag.
Was neben seiner unendlichen Erfahrung dabei aus der Musik auch spricht, ist immer noch die Lust am Verbotenen, wegen der er in ganz jungen Jahren dem Jazz verfiel. Es waren die Melodien der Tanzbands, nur mit mehr Noten, falschen sogar – wie er mit Ironie bemerkt – , die ihn zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs in ihren Bann schlugen. Das erzählt er bezaubernd in einem Ausschnitt aus einem kleinen Konzertgespräch am Ende der CD. In seiner Musikgeht die Erzählung weiter: anekdotisch und gespickt mit Pointen, in liebevoller Erinnerung und dabei quicklebendig im Hier und Jetzt. Er schöpft mit spielerischer Leichtigkeit aus dem reichen Vokabular einer großen Tradition und schafft immer neue, spannende Zusammenhänge. Seine phänomenale Spieltechnik verwendet Martial Solal dabei als unabdingbares Mittel zum Zweck. Wenn man ihr Sklave sei, könne man keine gute Musik machen, ist der Pianist überzeugt.
In den über 70 Jahren seiner Laufbahn, die schon im Paris der Nachkriegsjahre international wurde, als er mit Sidney Bechet und Dizzy Gillespie spielte, hat Martial Solal abertausende Konzerte gegeben. 1960 wurde er Filmkomponist, als er den Soundtrack für den Klassiker "Außer Atem" lieferte, und nach seinem Debüt beim Newport Jazzfestival 1963 auch zu einer Größe in den USA. In einer umfangreichen Diskographie ist das Werk des Django d´Or und Jazz Par Preisträgers, der selbst einen der wichtigsten europäischen Klavierwettbewerbe, den Concours Martial Solal, ins Leben gerufen hat, dokumentiert. Mit seiner zehnköpfigen Decaband und musikalischen Begegnungen u.a. mit Lee Konitz, Toots Thielemans, Dave Douglas, Joachim Kühn und jüngst erst mit Dave Liebman begeistert der eisern übende Virtuose, der sich seine Kunst weitgehend selbst beigebracht hat.
Großen Spaß macht es, ihm auf seiner aktuellen Solo-Einspielung zu lauschen: dem sprudelnden Fluss seiner Ideen und ihrer meisterhaften Umsetzung, dem harmonischen Erschließen und Öffnen der Musik, und seiner Lust am Risiko, die den Jazz so spannend macht. Das ist keine Leistungsschau mehr, sondern ein Sich Bewegen in der puren Essenz der Musik. So interpretiert Martial Solal acht bekannte Evergreens aus der Liga von Cole Porters "Night and Day" – darunter ein Medley von Prachtstücken seines Freundes Duke Ellington. Außerdem Mozarts Türkischen Marsch, "Frère Jacques" und zwei eigene Stücke. Dazwischen lustige Ansagen mit ernstem Kern, und viel jugendlicher Schalk im Konzertgespräch. Viel geschnitten wurde hier deutlich nicht. Das hat Atmosphäre und bringt einem die Musik und den Mensch besonders nahe. Fast so, als wäre man selbst dabei gewesen, als diese Jazzlegende aus Frankreich in Gütersloh ein Konzert gab.
Live At Theater Gütersloh 2017
Martial Solal (Klavier)
Label: Intuition
Sendung: "Leporello" am 15. März 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK