Ein Monument des 14. Jahrhunderts in Extremform: Björn Schmelzers Vokalensemble "Graindelavoix" interpretiert die "Messe de Nostre Dame" von Guillaume de Machaut.
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An Produktionen wie dieser scheiden sich die Geister - und das ist auch gut so. Björn Schmelzer, der Kopf von Graindelavoix, arbeitet mit Stimmen, die nicht im klassischen Sinne ausgebildet sind. Jeder Sänger soll die Musik nach seinem eigenen Empfinden ausdrücken, ohne jeglichen verbildeten Ballast. Was dieser Ansatz für expressive Kräfte entfalten kann, dafür ist gerade diese Neuerscheinung mit Guillaume de Machauts berühmter Messe de Nostre Dame ein so beeindruckender wie erschütternder Beleg.
Machaut wird wegen seiner musikalischen Neuerungen als Avantgardist seiner Zeit angesehen - und das passt zunächst einmal ganz sinnfällig zu Björn Schmelzers experimenteller Suche nach maximaler Ausdruckskraft. Rein musikalisch lässt sich feststellen, dass durch die betonte Individualität der Sänger keineswegs ein gemeinschaftliches Klangergebnis aufgegeben wird. Die Stimmen verschmelzen lediglich nicht so einheitlich miteinander. Ganz markant zeichnen sich dagegen die einzelnen Stimmverläufe ab.
Dazu gesellt sich tatsächlich eine enorme Unmittelbarkeit. Die Sänger von Graindelavoix fassen die Notation in Schmelzers Sinn als "Diagramme" auf. Sie improvisieren spontane Verzierungen, Glissandi, spezielle Klangfärbungen und Verschleifungen im mikrotonalen Bereich. Diese "unschönen" Stimmen führen zu einer sehr offene Obertonstruktur. Zusammen mit dem außergewöhnlich tief liegenden Bass ergibt sich eine intensive, archaische Anmutung, die einem ganz direkt in die Knochen fährt.
Schmelzer tappt ein Stück weit in die Falle, das individuelle Denken heutiger Tage für das 14. Jahrhundert in Anspruch zu nehmen. Der resultierende Klang entspricht sicher nicht dem ästhetischen Ideal jener Zeit. Dennoch ist Schmelzer ausreichend historisch fundiert, um keine völlige Beliebigkeit walten zu lassen – und kreiert so einen völlig neuen Blickwinkel auf ein Schlüsselwerk der Ars nova. Darauf kommt es in diesem Falle aber gar nicht in erster Linie an. Was hier im Doppelpack Graindelavoix/Machaut entsteht, ist Musik am äußersten Limit aller möglichen Ausdrucksstärke. Das muss eine Interpretation erstmal schaffen.
Graindelavoix/Björn Schmelzer
Label: Glossa