Gänsehaut-Musik von den Vorfahren Johann Sebastian Bachs: Die CD des belgischen Vokalensembles Vox Luminis ist eine der wichtigsten Alte-Musik-Neuheiten des Jahres. Sie zeigt: Das Wunder Bach ist nicht vom Himmel gefallen.
Bildquelle: Ricercar
Manchmal kann eine Pause mehr sagen als tausend Noten. "Unser Leben ist ein Schatten", klagt der Chor. Flüchtig fliegt der Sopran dahin - und vergeht plötzlich im Nichts, in der gähnende Leere einer langen Stille. Aber dann, ganz unerwartet, taucht ein zweiter Chor auf, ein Fernchor, wie aus einer anderen Welt. "Jesus ist das helle Licht", tröstet er. Der Mensch solle sich daran festhalten, denn: "Wer an Christus glaubt, der wird nimmermehr sterben" - und dieses "nimmermehr" wird so beschwörend wiederholt, als könne man allein dadurch das Leben am Entschwinden hindern.
Es sind sieben Minuten Gänsehaut-Musik, die Johann Bach da komponiert hat. Er war Organist in Schweinfurt, ein Bruder des Großvaters von Johann Sebastian Bach - und womöglich der allererste Komponist der Bach-Familie. Ganze drei Stücke sind von ihm überliefert, und jedes ist ein kleines Juwel - wie überhaupt diese CD-Box mit Motteten der Vorfahren von Johann Sebastian Bach in Wahrheit eine Schatztruhe ist, prall gefüllt mit 27 Schmuckstücken: für die Weihnachtszeit, für die Passionszeit, vor allem aber immer wieder für Begräbniszeremonien, die im 17. Jahrhundert repräsentative gesellschaftliche Ereignisse waren.
Und so bestechen die Motetten nicht nur durch emotionale Tiefe, sondern vor allem auch durch ihre kompositionstechnischen Raffinessen, ihre kontrapunktischen Kunstgriffe, ihre bildkräftige musikalische Rhetorik. Besonders Johann Michael Bach, der Schwiegervater von Johann Sebastian, verblüfft immer wieder aufs Neue durch die Verschränkung zweier Simultanchöre, die sich gegenseitig kommentieren und zu einem beglückenden Ganzen fügen. Das Wunder Johann Sebastian Bach ist also keineswegs vom Himmel gefallen.
Dass die Musik von Johann Michael Bach und seinem Bruder Johann Christoph aber nicht nur erstaunt, sondern auch berührt - das liegt am belgischen Ensemble Vox Luminis. An der Weichheit und Geschmeidigkeit der Stimmen, an den leuchtenden Höhen, die so tröstlich klingen, und den klangsatten Tiefen, die Geborgenheit vermitteln. Lionel Meunier hat sorgfältig an den Details gearbeitet, an der perfekten Textartikulation, an der Klangbalance, auch an der sparsamen und reflektierten Instrumentalbegleitung. Dennoch steht das Detail, die spröde rhetorische Figur nicht im Vordergrund, sondern vermittelt sich unaufdringlich als Teil einer ganzheitlichen Schönheit. Und so mag man sich gar nicht satt hören an dieser Doppel-CD - einer der wichtigsten Neuerscheinungen des zu Ende gehenden Jahres.
Vox Luminis: Lionel Meunier
Label: Ricercar