Ausgemistet, zerschnitten, recycelt – die Reformation ging nicht gerade zimperlich mit klösterlichen Notenhandschriften um. Von manch wertvollem Manuskript blieb nur ein Streifen als Bucheinband. Das Ensemble Ordo Virtutum ist auf die Suche nach den verlorenen Klängen gegangen – und hat Erstaunliches gefunden.
Bildquelle: © Cornetto
Der CD-Tipp zum Nachhören
Ordo Virtutum - Fragmentum
Einst war das Kloster Maulbronn dem Himmel ganz nah. Siebenmal am Tag trafen sich die Zisterziensermönche in der langen, schlichten Klosterkirche zum Gebet. Und ihr Gesang - so formuliert es die Liturgie - stieg wie "duftender Weihrauch empor vor das Angesicht Gottes". Dann aber kam die Reformation. Das Kloster wurde geschlossen. Die Mönche zogen aus, eine evangelische Schule zog ein, später auch die Stadtverwaltung. Für die alten Choralhandschriften mit ihren "papistischen Gesänge" hatte man nur noch Verachtung übrig. Man zerschnitt die Pergamente und schützte damit das, was man für wirklich wertvoll hielt: Buchdeckel, Bücherrücken, Akten. Und so verstaubten Tausende von Fragmenten ehemals prachtvoller Noten, nicht nur aus Maulbronn, sondern auch aus vielen anderen Klöstern, als Einbandmaterial in Archiven.
Bis der Tübinger Musikwissenschaftler Stefan Johannes Morent kam. Er hat, zusammen mit einem interdisziplinären Forschungsteam, unzählige Pergamentschnipsel gesichtet, ihre Herkunft bestimmt, fehlende Noten rekonstruiert und schließlich mit seinem Ensemble Ordo Virtutum die verschollenen Gesänge wieder zum Klingen gebracht. Und zwar, das ist das Besondere, jeweils am Originalschauplatz. Mit einem Aufnahmeteam des SWR zogen die Musiker von Klosterkirche zu Klosterkirche, von Maulbronn nach Alpirsbach, von Salem am Bodensee bis in den Schwarzwald nach Hirsau - heute eine Ruine, im Mittelalter aber das bedeutendste und mächtigste Reformkloster nördlich der Alpen.
Mit dieser SACD lassen sich also nicht nur gregorianische Gesänge verschiedener Mönchsorden erleben, sondern auch die zugehörigen Klangräume. Die akustisch relativ trockene Hirsauer Marienkapelle ersteht genauso vor dem inneren Auge wie die große, hallige Klosterkirche Maulbronn. Ordo Virtutum erweist sich dabei als eines der derzeit besten Ensembles für dieses Repertoire: Ruhig strömen die Melodien dahin, erstaunlich nuancenreich und flexibel in den rhythmischen Details und gewohnt homogen im Zusammenklang der sechs Männerstimmen. Auch wenn der Untertitel der CD "Fragmente aus südwestdeutschen Klöstern" fälschlich eine rein regionale Bedeutung suggeriert - in Wirklichkeit ist dieses aufwändig produzierte Projekt vorbildhaft im Ineinandergreifen von Wissenschaft und Praxis. Und auch wer sich nicht für die Hintergründe interessiert, kann sich über diese schwerelos schwebende Musik freuen, mit der man - wie die mittelalterlichen Mönche in Maulsbronn - dem Himmel ganz nah ist.
Ordo Virtutum: Stefan Johannes Morent
Label: Cornetto
Sendungsthema aus "Tafel-Confect" vom 23. Juli 2017, 12.05 Uhr auf BR-KLASSIK