Der flämische Dirigent und Chorleiter Philippe Herreweghe ist einer der führenden Pioniere der historischen Aufführungspraxis. Am 2. Mai ist er 70 Jahre alt geworden, und pünktlich zum runden Geburtstag hat er eine neue Brahms-CD herausgebracht. Nach und nach will er alle vier Symphonien von Brahms, ergänzt um ältere Aufnahmen der orchesterbegleiteten Chorwerke, mit dem von ihm gegründeten Orchestre des Champs-Élysées neu einspielen. Zum Auftakt hat sich Herreweghe gleich das Schwerste vorgenommen: die vierte und letzte Symphonie, Gipfel und Endpunkt der Brahms'schen Symphonik.
Bildquelle: PHI
Der CD-Tipp zum Anhören
Konservative Musikfreunde, die "ihren" Brahms zu kennen glauben, werden bei Philippe Herreweghe und seinem Orchestre des Champs-Élysées erstmal ihren Ohren nicht trauen: Wann hätte man den Beginn der vierten Symphonie je so zügig und federnd erlebt? Dabei wirkt dieses herbstliche Thema, das die Symphonie wie beiläufig eröffnet, hier keineswegs verhetzt, sondern elegant fließend. Anmutig strömt das Melos von Brahms, tänzerisch leicht, lebendig pulsierend, aufgehellt im Klang. Herreweghe bleibt der Herbheit und schroffen Dramatik dieses Meisterwerks aber nichts schuldig.
Mit weitgehend vibratolosen Streichern kostet Herreweghe die Melancholie im Trauermarsch-artigen Andante mit großer Innigkeit aus - wo sich andere Dirigenten gern austoben und tief in die Emotionskiste greifen, gibt es bei ihm nur atmende Klarheit und stille Wehmut. Dem grimmigen Humor des Scherzos begegnet Herreweghe mit rhythmischer Prägnanz und ausgelassener Spielfreude. Seine Musiker vom Orchestre des Champs-Élysées demonstrieren nebenbei auch noch, wie perfekt man heute auf Originalinstrumenten spielen kann.
Mit einer an Bach angelehnten riesigen Passacaglia krönt Brahms sein symphonisches Schaffen. Seine enorme Erfahrung mit Bach und Alter Musik kommt Herreweghe natürlich zugute, wenn er die Architektur dieses Formkunstwerks schlüssig herausarbeitet. Mit unerbittlichem Ernst und sakraler Würde stimmen die historischen Posaunen eine Choral-Variation an.
"Energico e passionato", also "kraftvoll und leidenschaftlich" hat Brahms diesen Schlusssatz überschrieben. Genau so gehen Herreweghe und sein Kollektiv zur Sache, aber eben strukturbetont, straff und flexibel. Ihre schlanke und lichte Interpretation ist ein Gegenentwurf zur wuchtig-pathetischen Brahms-Tradition alter Schule. Und wirkt in ihrer Konsequenz und Lakonie doch weit überzeugender, tiefgründiger, eindringlicher.
Johannes Brahms:
Symphonie Nr. 4 e-Moll op. 98
Rhapsodie für eine Altstimme, Männerchor und Orchester op. 53
"Schicksalslied" für gemischten Chor und Orchester op. 54
Ann Hallenberg (Mezzosopran)
Collegium Vocale Gent
Orchestre des Champs-Élysées
Leitung: Philippe Herreweghe
Label: PHI
Sendung: "Leporello" am 23. Mai 2017, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK
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