Kaum eine andere Werkgattung wird so sehr mit Johann Sebastian Bach in Verbindung gebracht, wie die der Kantate. Rund 300 solcher Werke hat er geschaffen. Die beiden Kantaten "Vergnügte Ruh" und "Ich habe genug" gehören dabei zu der sehr kleinen Gruppe der Solokantaten. Doch was sind schon rund 300 Kantaten Bachs gegenüber den mindestens 1.700 Kantaten eines Georg Philipp Telemann? Wie auch immer - in beiden Fällen befinden wir uns auf deutschem protestantischen Boden. Nicht unbedingt das Terrain des französischen Counter-Klangmagiers Philippe Jaroussky. Bis jetzt!
Bildquelle: Erato
CD Tipp 09.11.2016
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Die Stimme: unverkennbar! Dieser hoch timbrierte Mezzo-Sopran verrät den Besitzer mit dem ersten Ton: Philippe Jaroussky. Die Wirkung: Irritierend. Zunächst einmal. Erstmals singt Philppe Jaroussky in deutscher Sprache - eine Herausforderung für jeden Franzosen. Weg von der nasalen, in der Maske sitzenden Tongebung, hinunter in die kehlige Welt deutscher Konsonanten. Eine Hürde, die für sich genommen, schon hoch ist und die Jaroussky nicht in allen Fällen mit gewohnter, himmel-öffnender Mühelosigkeit überspringt. Zumindest nicht in den zwei Bach-Solokantaten dieser CD. Sobald aber in den Arien Johann Sebastian Bachs wie bei Georg Philipp Telemann grundsätzlich die Melodik und das gesanglich-ariose Element stärker in den Vordergrund rücken, findet Philippe Jaroussky allerdings sofort zu betörend-nobler Klangschönheit zurück, lässt die Vokale strömen, bettet die Worte auf sein samtenes interpretatorisches Ruhekissen.
Es ist aber auch ein Kreuz mit der deutschen Sprache! Gerade die unverrückbare Verkündigungsrhetorik in den Rezitativen Bach'scher Kantaten, in denen das erzählerische Moment der Gemeinde lutherische Entschlossenheit entgegen zu schleudern scheint - diese manifeste Evangelistenrhetorik entstammt einer zutiefst reformatorischen Ungeschminktheit. Die dazu notwendige, unabdingbare Textverständlichkeit ist nicht in allen Fällen gegeben, doch Jaroussky kompensiert dies mit der kristallenen Schönheit seiner Stimme. Der ihn durchaus fordernden Textlastigkeit in den Rezitativen setzt er expressiven Nachdruck entgegen, den das Freiburger Barockorchester instrumental formvollendet umhüllt.
Alle vier ausgewählten Solokantaten handeln vom Ende unseres Daseins, vom herbeigesehnten Tod, der uns endlich von den Qualen unseres irdischen Daseins befreit oder sind eine Betrachtung des Todes Christi am Kreuz. Und kaum eine andere Arie als "Schlummert ein" aus Bachs Kantate "Ich habe genug" lässt die Freude auf ewige himmlische Schönheit irisierender erstrahlen. In solchen Momenten wiegt Jaroussky den Hörer in wunschlos glückliche Verzauberung, wechselt sanft zwischen ungewohnt tiefem Brust- und voll tönendem Kopfregister hin und her.
Jaroussky hat mit dieser CD beeindruckenden Mut bewiesen, sich einer großen Herausforderung gestellt. Statt mediterraner Leichtigkeit, die den Sänger und seine Kunst in den Vordergrund stellt: deutsche, zuweilen grüblerische Reflexion über die letzten Dinge. So sehr die Irritation beim ersten Hören überwiegt, verführt Jaroussky den Hörer unbemerkt in seine persönliche Bach- und Telemann-Klangwelt. Und plötzlich ist da ein unbändiger Wille, die CD noch einmal und noch einmal zu hören. Was wie ein akustischer Clash der Kulturen zu beginnen schien, endet in einer erstaunlichen Entdeckungsreise hin zu einer neuen Bach-Interpretationskultur. Ein größeres Verdienst kann sich ein Interpret nicht ersingen. Und Hand auf’s Herz: So ein bisschen "Noblesse à la française" steht auch unserem Johann Sebastian und Georg Philipp durchaus gut zu Ton...
Johann Sebastian Bach:
Kantaten BWV 82 "Ich habe genug" & BWV 170 "Vergnügte Ruh"
Georg PhilippTelemann:
Kantaten TWV 1: 364 "Der am Ölberg zagende Jesus" & TWV 1: 983 "Jesus liegt in letzten Zügen"
Philippe Jaroussky (Countertenor)
Freiburger Barockorchester
Label: Erato
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