2003 formte der Dirigent Francois-Xavier Roth aus Musikern seiner französischen Heimat ein besonderes Ensemble, das er Les Siècles nannte. Ziel war ein neuer Zugang zu den Werken aller Jahrhunderte und Epochen, des Barock, der Klassik und Romantik wie der klassischen Moderne. Mit Hilfe eines großen historischen Instrumenten-Archivs sollen alle Werke auf Instrumenten ihrer Entstehungszeit erklingen, egal ob es um Chopins Klavierkonzerte, Liszts Dante-Sinfonie oder Strawinskys "Sacre" geht.
Bildquelle: Harmonia Mundi
Der CD-Tipp zum Anhören
Die drei Werke von Maurice Ravel, die Francois-Xavier Roth jetzt mit Les Siècles vorlegt, sind ursprünglich für Klavier bzw. Klavier zu vier Händen geschrieben. Ravel orchestrierte "Ma mère l’oye", "Le Tombeau de Couperin" und auch die frühe, schon vor der Jahrhundertwende komponierte "Ouverture Shéhérazade" kurz nach ihrer Entstehung, und erst in den Orchesterfassungen entfalten die drei Werke ihren ganzen sinnlichen Zauber. Zugegeben, in "Shéhérazade" bewegt sich Ravel noch nicht auf der Höhe seiner wundervollen, einzigartigen Orchestrierungskunst. Dem Klang fehlt hier noch die unglaubliche Raffinesse, der Farbenreichtum und auch die Transparenz der orchestralen Hauptwerke. Und doch ist es faszinierend zu erleben, woher Ravel kommt, was klanglich in diesem Frühwerk des Drei- oder Vierundzwanzigjährigen schon angelegt ist und worauf er später – etwa in "Daphnis et Chloé" – zurückkommen sollte.
In der Neuaufnahme von François-Xavier Roth und Les Siècles ist das besonders schön zu hören. Es zahlt sich aus, dass dieses Orchester die Instrumente der französischen Jahrhundertwende verwendet, die Ravel kannte, deren Charakteristika er sehr genau studiert hat und für die er eben komponierte. Nicht zuletzt die Holzbläser führte er im Hinblick auf Virtuosität und Dynamik immer wieder bewusst in Grenzbereiche. Man spürt noch etwas davon in dieser Aufnahme, wenngleich die Musiker von Les Siècles, allen voran die Oboistin Hélène Mourot in "Le Tombeau de Couperin", ihre historischen Instrumente perfekt beherrschen.
Der Klang wirkt fragiler als bei modernen Instrumenten, die mit Darmsaiten bespannten Streichinstrumente entwickeln seidig glänzende Farben. Diese Zerbrechlichkeit und Noblesse dürfte Ravels Intention und Botschaft nahe kommen, besonders in "Le Tombeau de Couperin", das ebenso eine Hommage an die französische Barockmusik war wie eine bewegende Erinnerung an mehrere im Ersten Weltkrieg gefallene Freunde des Komponisten. Und auch dem Zyklus "Ma mère l'oye", jener Mischung aus Märchenerzählung und Kinderstücken, geben die Franzosen bei aller Klangschönheit ein wenig von jener kindlich naiven Unschuld zurück, die Ravel vorgeschwebt haben mag - Ravel, der sich wie wohl kein zweiter Komponist zeitlebens weigerte, die Kindheit hinter sich zu lassen.
Maurice Ravel:
"Ma mère l’oye" (komplette Fassung)
"Le Tombeau de Couperin"
"Shéhérazade, ouverture de féerie"
Les Siècles
Leitung: François-Xavier Roth
Label: Harmonia Mundi
Sendung: "Leporello" am 16. April 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK