Lebenskrisen können dazu führen, dass Menschen, Künstler zumal, endlich zum Wesenskern dessen vordringen, was wirklich das Ihre ist.
CD-Tipp 05.05.2015
Sabine Liebner spielt Scelsi
Giacinto Scelsi - begütertes Adelskind, 1905 in La Spezia geboren-– war während seiner ersten Schaffensphase den Weg des talentierten, handwerklich gut ausgebildeten Tonsetzers gegangen, und berühmte Interpreten haben seine Werke aufgeführt. Nach ausgedehnten Reisen durch Afrika, Indien und Ostasien ereilte ihn Ende der 40er Jahre eine schwere psychische Krise, die lange Klinik- und Sanatoriums-Aufenthalte nach sich zog. Während ihrer täglich stundenlanges Hineinlauschen ins Verklingen immer wieder angeschlagener einzelner Klaviertöne.
Mit dem Jahr 1952 begann Scelsis zweite Schaffensphase; seine eigentliche, wie er sagte. Denn fortan begriff er sich nicht mehr als einen, der komponiert – von componere / zusammenfügen. Fortan begriff er sich als Medium für klingende Botschaften aus den Sphären der Transzendenz. Giacinto Scelsi – gestorben 1988 in Rom – eine der faszinierendsten und geheimnisvollsten Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Die Münchner Pianistin Sabine Liebner, hat nun seine Klaviersuiten 9 und 10 eingespielt – und es gelangen ihr absolut magische Momente.
Seiner 1953 empfangenen– d.h. im Zustand der Trance improvisierten, auf Tonband aufgenommenen und von fremder Hand notierten – Klaviersuite Nr. 9 gab Scelsi den Titel Ttai. So heißt das Hexagramm Nr. 11 im I Ging, dem berühmten chinesischen Buch der Wandlungen. Dieses Zeichen steht für Frieden und Gedeihliches schlechthin. Sabine Lebner, die sich mit ihren Cage-, Feldman- oder Earl Brown-Einspielungen einen grenzüberschreitend klingenden Namen gemacht hat, versteht es mit differenziertester Anschlagskunst und geistiger Präsenz, Tore zu öffnen und so etwas wie sinnliche Einfühlung zu ermöglichen in den natürlichen Gang der Dinge. Ka – das ist der Titel der 1954 entstandenen, herber und kontrastreicher anmutenden zehnten Suite: das Sanskrit-Wort verweist aufs Unnennbare hinter aller Erscheinung, an welches Scelsi in seinem vielfältigen Oeuvre immer wieder erfolgreich rührte. Bleibt zu wünschen, dass Sabine Liebners Interpretationen zweier früher Suiten aus seiner 'eigentlichen' Schaffensphase das innere Ohr vieler Hörer erreichen werden.
Giacinto Scelsi:
Klaviersuiten Nr. 9 "Ttai" und Nr. 10 "Ka"
Sabine Liebner, Klavier
Label: Wergo