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CD - Dmitrij Schostakowitsch Cellokonzert Nr. 1, Symphonie Nr. 5

Kann man eine groß besetzte Symphonie des 20. Jahrhunderts ohne Dirigenten aufführen? Sollten 43 Streicher, elf Holz- und elf Blechbläser, vier Schlagzeuger, zwei Harfenistinnen und ein Pianist, sollten 72 Musiker ein Mammutwerk wie die Fünfte Symphonie von Dmitrij Schostakowitsch auf das Konzertpodium wuchten und dabei auf die ordnenden Hände eines Mannes oder einer Frau am Dirigentenpult verzichten?

Bildquelle: Dissonances Records

CD-Tipp 20.12.2016

Der CD-Tipp zum Anhören

Die Antwort muss zunächst einmal lauten: Wenn sie es können, warum nicht. Das im französischen Dijon beheimatete Orchester Les Dissonances kann es, soviel steht fest. Die auf CD veröffentlichten Live-Mitschnitte, u.a. Mozarts Violinkonzerte und die Symphonien von Johannes Brahms waren exzellent, bei Schostakowitsch war man trotzdem gespannt. Doch auch das jetzt veröffentlichte Konzert vom Januar 2016 ist ein Erlebnis von atemberaubender musikalischer Intensität.

Zum Orchester

2004 gründete der französische Geiger David Grimal ein ungewöhnliches Orchester, das man vielleicht eher als Künstlerkollektiv bezeichnen müsste. Der Name, Les Dissonances, sollte keineswegs darauf hindeuten, dass das Ensemble vorhatte, sich besonders gerne zu streiten oder besonders schräge Musik zu spielen, Grimal verstand ihn vielmehr als Hommage an Mozarts berühmtes Dissonanzen-Quartett, als Signal für ein konstruktives Abweichen von Denkgewohnheiten. Die wohl offensichtlichste Abweichung war, dass man grundsätzlich ohne Dirigenten auskommt. Doch auch das hohe Maß an demokratischen Prozessen - sei es bei der Probenarbeit, sei es bei der Programmgestaltung - entspricht ganz sicher dem normalen Orchesterbetrieb. Bis jetzt ist das Experiment geglückt, Les Dissonances und David Grimal sind auch nach zwölf Jahren äußerst erfolgreich unterwegs.

Zügige, drängende Tempi

Die Truppe unter David Grimal, dem Gründer, Konzertmeister und Künstlerischen Leiter muss hartnäckige Probenarbeit absolvieren und ein extremes Engagement an den Tag legen, anders ist eine solche Aufnahme nicht denkbar. Die Besetzung mag für Schostakowitschs Fünfte mit elf ersten Geigen überschaubar sein, der Ausdruckstiefe und emotionalen Wucht tut das keinen Abbruch. Der klanglichen Transparenz hingegen hilft es enorm. Doch die dürfte auch befördern, dass hier ein Symphonieorchester wie eine Gruppe Kammermusiker aufeinander hören muss, will es den fehlenden Dirigenten ausgleichen. Auch ohne ihn gelingt Les Dissonances eine faszinierend stimmige Deutung, mit zügigen, ja drängenden Tempi. Der langsame Satz, einer jener großen und abgründigen Klagegesänge Schostakowitschs verliert nie den strukturellen Zusammenhang. Und auch die Hintergründigkeit des doppelbödigen Finales arbeiten die Franzosen mit Verve heraus, lassen das nur scheinbar in einer Apotheose gipfelnde Finale überdreht ins bedrohlich Leere laufen.

Lustvolle Emotionalität und schneidende Präzision

Xavier Phillips erweist sich im nicht weniger hintergründigen ersten Violoncellokonzert von Schostakowitsch als überragender Cellist. Er konnte das Werk noch mit Mstislav Rostropowitsch erarbeiten, dem Schostakowitsch beide Cellokonzerte widmete. Den motorischen Kopfsatz treibt Philipps unnachgiebig voran und insbesondere das Finale macht er durch ein extrem schnelles, wenn auch nie überdrehtes Tempo zum Ereignis. Diese Musik ist voller Brüche, sie schillert zwischen tiefer Tragik und fratzenhafter Groteske, zwischen melodischem Pathos und böser Ironie, zwischen offen ausgestellter Trauer und bissigem Sarkasmus. Les Dissonances und David Grimal führen all das gnadenlos vor, mit lustvoller Emotionalität und schneidender Präzision. Selbst bei Schostakowitsch geht es auch ohne Dirigent - wenn man es kann.

Dmitrij Schostakowitsch: Orchesterwerke

Violoncellokonzert Nr. 1 Es-Dur op. 107
Symphonie Nr. 5 d-Moll op. 47

Xavier Phillips (Violoncello)
Les Dissonances
Künstlerische Leitung: David Grimal

Label: Dissonances Records

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