Dass Spitzenorchester wie die Berliner Philharmoniker, das London oder das Chicago Symphony Orchestra eigene Labels gründen, hat einen einfachen Grund: Die Major Labels veröffentlichen kaum noch Symphonik. Da lässt es aufhorchen, wenn die Deutsche Grammophon, wie kürzlich bekannt geworden, einen Exklusivvertrag mit einem Dirigenten abschließt. Andris Nelsons ist der Erwählte. Die bereits begonnene Reihe mit Schostakowitsch-Symphonien, gespielt vom Boston Symphony Orchestra, soll weitergehen. Gerade ist die zweite CD erschienen.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
CD Tipp 06.06.2016
Der CD-Tipp zum Nachhören!
"Unter Stalins Schatten" – so nennt die Deutsche Grammophon die Schostakowitsch-Reihe. Für die Fünfte Symphonie trifft das ins Schwarze: Dass diese Musik das Plazet von Josef Stalin und seinen Kulturfunktionären fand, hat Schostakowitsch vermutlich das Leben gerettet, nachdem er zuvor mit der Oper "Lady Macbeth von Mzensk" den Unwillen des Diktators auf sich gezogen hatte. Schostakowitsch tat öffentlich Buße – und nannte seine Fünfte "die schöpferische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechte Kritik". Vor allem der triumphale Schluss mit seinem sich selbst überbietenden Jubel wirkt wie ein Zugeständnis an den offiziell verordneten Optimismus.
Das Publikum feierte die Uraufführung im November 1937 mehr als eine halbe Stunde lang. Viele Zuhörer weinten. Nur weil irgendwann die Saalbeleuchtung ausgeschaltet wurde, leerte sich schließlich die Leningrader Philharmonie. Hatten die Zuhörer Schostakowitschs doppelbödige Botschaft verstanden? Der bombastische Abschluss dieser in ihrer Substanz tief tragischen Musik lügt – er lügt so aufdringlich, so offensichtlich, dass er sich selbst dementiert. Offenbar hatte der größte Teil des Publikums hinter der kalten Raserei und dem hysterischen Jubel Schostakowitschs Verzweiflung erkannt.
Andris Nelsons jedoch interpretiert Schostakowitschs Musik eins zu eins. Seine Deutung setzt nicht auf Demaskierung, aufs Hörbarmachen von Ironie und doppeltem Boden. Nelsons nimmt Schostakowitsch beim Wort, versteht die mittleren Symphonien ganz unmittelbar als Ausdrucksmusik. Das führt zu wunderschönen Ergebnissen, etwa in der atmosphärisch ungemein dichten langsamen Einleitung zur Fünften. Oder im langsamen Satz der Achten, wenn sich – fast staunend, schüchtern und zaghaft – inmitten der epochalen Düsternis von Weltkrieg und Diktatur im feinsten pianissimo so etwas wie Hoffnung abzeichnet. Auch die Frechheiten in der Neunten, mit denen Schostakowitsch dem offiziellen stalinistischen Plüsch munter eine Nase dreht, bringt er mit technischer Brillanz auf den Punkt.
Nur dass Schostakowitschs Musik manchmal zwei Botschaften auf einmal aussendet – das hörbar zu machen, ist weniger Nelsons Sache. Seine Interpretation setzt auf eindeutige, starke Gefühle, die ungebrochen und voller draufgängerischer Emotionalität in Bann schlagen. Insofern führt der Titel der Reihe "Unter Stalins Schatten" ein wenig in die Irre: Nelsons löst Schostakowitschs Musik aus dem historischen Kontext, in dem der Komponist zu verschlüsselten, doppelbödigen Aussagen gezwungen war. Stattdessen versteht Nelsons diese Musik als allgemeingültige, eher zeitlose menschliche Botschaft. Das ist legitim und geschieht im Zusammenspiel mit dem glänzend aufgelegten Boston Symphony Orchestra musikalisch auf höchstem Niveau.
Dmitrij Schostakowitsch:
Symphonie Nr. 5 d-Moll, op. 47
Symphonie Nr. 8 c-Moll, op. 65
Symphonie Nr. 9 Es-Dur, op. 70
Suite aus der Schauspielmusik zu "Hamlet", op. 32a
Boston Symphony Orchestra
Leitung: Andris Nelsons
Label: Deutsche Grammophon