Social media und Videoblogs gehören heute für jüngere Klassikstars zum Repertoire. Wer da nicht mitmacht, wer nicht pausenlos postet, plaudert, bloggt und chattet, wird schnell zum Mauerblümchen. Bei ein paar wenigen Ausnahmen aber dreht sich der Effekt ins Gegenteil um. Dann wird gerade die Verweigerung gegenüber dem Medienzirkus zum Markenzeichen, ja zum Kult. Kirill Petrenko ist so ein Fall, und natürlich Grigori Sokolov. Die Ironie dabei: Auch die Verweigerung gegenüber den Medien kann medial ausgeschlachtet werden.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
CD Tipp 22.01.2016
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Die Neue Zürcher Zeitung etwa nennt Sokolov "Zauberer", der Spiegel sieht ihn als "Riesen", die Süddeutsche tituliert ihn als "Großwesir" und die ZEIT erklärt ihn vollmundig zum "bedeutendsten Pianisten der Welt". Das wird einem fast ein bisschen zu viel. Entsprechend hochgeschraubt sind die Erwartungen, wenn man die neue Sokolov-Platte in den CD-Player schiebt. Doch schon in den ersten Takten schmilzt alle Skepsis dahin. Die beiden live mitgeschnittenen Klavierabende, der eine aufgenommen in Warschau im Mai 2013, der andere bei den Salzburger Festspielen im August des gleichen Jahres, waren Sternstunden – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise.
In Schuberts erster Serie der "Impromptus" und in den späten "Drei Klavierstücken" zeigt sich Sokolov auf faszinierende Weise als Sucher. Alles dreht sich um Ausdruck und Psychologie, um Schmerz und Verstörung. Mit atemberaubender Nuancierungskunst befragt er jede Linie, jede Phrase, jeden einzelnen Ton. Und was er in und zwischen den Notenzeilen entdeckt, ist wenig tröstlich. Sokolov spielt mit größter Intensität und unerschöpflicher Klangphantasie. Dabei nimmt er sich große Freiheiten, auch im Tempo. Sokolov führt durch Schuberts Seelenlandschaften auf immer wieder überraschenden Wegen, die in diesem Reich der doppelbödigen Schönheit unversehens in psychologische Abgründe münden. Man kann dieses geradezu fanatische Herausarbeiten und Auskosten manieristisch nennen. Aber nur, wenn man das Wort von seinem negativen Beigeschmack befreit: Es ist ein Manierismus im großen Stil. Denn Sokolov stößt vor zum existenziellen Kern von Schuberts Musik.
Ganz anders Sokolovs Beethoven. Die monumentale Hammerklaviersonate spielt er schlicht, schnörkellos, überlegen. Wo bei Schubert die Psychologie im Vordergrund stand, ist es bei seiner Beethoven-Interpretation die Form. Den ersten Satz nimmt er eher gemächlich, fast schon zu abgeklärt. Die irrwitzige Fuge am Schluss, in der Beethoven, taub und radikal, bis an die Grenzen der Darstellbarkeit geht, wirkt bei Sokolov ungewohnt licht und klar. Höhepunkt ist der langsame Satz. Hier ist die Zeit aufgehoben, alles schwebt und leuchtet. Man hört das mit ungläubigem Staunen. Diese Platte ist wirklich etwas Besonderes. Und Sokolov hat einfach recht: Ein Musiker hat Wichtigeres zu tun als Interviews zu geben, zu chatten oder ein eigenes Parfum zu kreieren. Ein Glück, dass Grigori Sokolov sich unbeirrbar darauf konzentriert, Klavier zu spielen.
Franz Schubert:
Impromptus D. 899
Klavierstücke D. 946
Ludwig van Beethoven:
Klaviersonate Nr. 29 B-Dur op. 106 "Hammerklavier"
Grigori Sokolov (Klavier)
Label: Deutsche Grammophon