Schon immer waren Organisten diejenigen, die sich mit ihrem "Einmann-Orchester", der Orgel, auch Werke einverleibten, die gar nicht für ihr Instrument geschrieben wurden. Besonderen Auftrieb erfuhren diese "Orgel-Orchestrierungen" in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, namentlich durch die symphonisch geprägten Instrumente Aristide Cavaillé-Colls. Die symphonische Vielfarbigkeit seiner Orgeln ist legendär und führte unter anderem zur Entwicklung der Gattung "Orgelsymphonie".
Bildquelle: Audite
Der CD-Tipp zum Anhören
Jetzt hat die französische Organistin Sophie Rétaux eine CD mit Transkriptionen vorgelegt, die sie als klingende Visitenkarte jener Cavailé-Coll-Orgel verstanden wissen will, an der sie seit Jahren Titularorganistin ist: der 1855 errichteten 4-manualigen Orgel der Kathedrale im nordfranzösischen Saint-Omer. Rachmaninoff, Tschaikowsky und sogar Prokofjew und Schostakowitsch sind darauf zu finden – in durchaus aparten Neuinterpretationen.
Mit Schostakowitschs 8. Streichquartett beginnt diese CD – einer seiner innigsten Kammermusiken, mit der er sich selbst ein Andenken setzen wollte. "DSCH" als persönliche Chiffre, durchgeführt in großenteils durchaus schwermütiger Manier, die dem Komponisten Tränen der Selbstrührung in die Augen trieb. Die Klarheit der Form und die lineare Beschaffenheit der Themen scheinen geradezu prädestiniert zu sein für eine Orgel-Adaption. In diesem Fall stammt sie von Sophie Rétaux selbst und bringt die Klangfarben ihrer Cavaillé-Orgel trefflich zum Vorschein – zusammen mit den expressiven Möglichkeiten des Instruments. Mag sein, dass man sich als Hörer erst an diese "Übersetzung" gewöhnen muss: An Intensität zumindest steht sie derjenigen des Streichquartetts kaum nach.
Auch Sergej Prokofjews "Visions fugitives", von denen Sophie Rétaux knapp die Hälfte transkribiert hat, werden durchaus mit dem gebotenen Respekt gegenüber dem Original behandelt – und erhalten doch gleichzeitig eine anregend neue Note. Und natürlich darf in dieser inspirierten Sammlung von Orgel-Adaptionen auch der "Tanz der Rohrflöten" aus Tschaikowskys "Nussknacker" nicht fehlen, den die Interpretin im Mittelteil mit dem wunderbar kontrastierenden Klang Cavaillé-Coll'scher Zungenregister würzt.
Faszinierendstes Charakterstück dieser CD aber bleibt vielleicht die Übertragung von Nikolai Rimsky-Korsakows "Scheherazade"; denn nicht nur symphonische Farbvielfalt macht den Reiz dieser Orgelversion aus, sondern auch die mitunter virtuose Handhabung des häufig gerne als "statisch" beleumundeten Orgel-Instrumentariums. Sophie Rétaux zeigt damit einmal mehr, dass sie nicht nur eine intime Kennerin ihres Cavaillé-Coll-Instruments ist sondern auch eine vorzügliche Orgel-Orchestratorin.
Orgel-Transkriptionen:
Schostakowitsch / Retaux: Streichquartett Nr. 8
Prokofjew / Retaux: Visions fugitives
Rachmaninow / Balch Nevin: Prelude g-Moll
Rachmaninow / Shinn: Prelude cis-Moll
Tschaikowsky / Goss-Custard: Der Nussknacker
Tschaikowsky / Retaux: Schwanensee
Rimsky-Korssakow / Retaux: Scheherazade
Sophie Rétaux (Orgel)
Label: Audite
Sendung: "Leporello" am 11. April 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK