"Der eigene Hund macht keinen Lärm - er bellt nur." Kurt Tucholsky war ein schlauer Mann. Ebenso John Cage, der mal gesagt hat: "Wir können so sehr versuchen, Stille herzustellen, wie es nur geht, wir können es nicht." Und sowieso: Wo Lärm anfängt und wo Stille aufhört, das nimmt ja jeder anders wahr.
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Der CD-Tipp zum Anhören
Den einen berührt es, den anderen stößt es ab. In seinem letzten fertiggestellten Werk von 1968 lässt der griechische Komponist Jani Christou einen Schauspieler schreien, heulen und keuchen. Der komplette Kontrollverlust. Und zwischendrin ein Luftholen, Durchatmen, Pausieren. Die Komposition heißt "Anaparastasis III" und kann einem schon ganz schön an die Nieren gehen. Was auch an der besonders emphatischen Interpretation des Ensemble Musikfabrik liegt, aber eben nicht nur.
Ganz anders die beiden Stücke von Georg Friedrich Haas. Der gebürtige Österreicher, der seit einigen Jahren in New York lebt und gerne mal seine erotischen Fantasien und sexuellen Neigungen öffentlich thematisiert, hat Salomos Hohelied aus dem Alten Testament vertont - einer der erotischsten Texte der Weltliteratur. Doch für Haas war sowieso nicht die religiöse, sondern die erotische Dimension entscheidend. "Ich suchte, aber ich fand ihn nicht" - so der Titel seiner Komposition aus dem Jahr 2011. Die Textstelle, die Georg Friedrich Haas gewählt hat: Eine Liebende sucht nach ihrem Geliebten. "Meine Seele war außer sich, als er redete. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht; ich rief, aber er antwortete mir nicht". Ein abgründiges Stück, düster, mit Leerstellen voll quälender Stille. Klangfarben und Tonhöhen wechseln sich rasant ab. Doppeltrichter-Trompete, Doppeltrichter-Horn und Doppeltrichter-Posaune machen’s möglich. Und so entstehen wundersam sphärische Klangmischungen.
Auch im zweiten Haas-Stück auf dieser CD stehen Texte im Vordergrund: Verse von Georg Trakl, Theodor Storm, August Stramm und Else Lasker-Schüler. "Wie stille brannte das Licht", ein Zyklus von sieben Nacht-Liedern, den die Sopranistin Sarah Wegener gemeinsam mit dem Ensemble Musikfabrik äußerst präzise durchmisst. Gleißend hell in den Höhen, warm in den Tiefen. Überhaupt liegt viel Zärtlichkeit in der Interpretation dieser Lieder.
Das vierte und letzte Stück auf dieser CD des Ensemble Musikfabrik stammt von dem Amerikaner Evan Johnson: "Die Bewegung der Augen". Die Pausen hat er mit Vortragsanweisungen versehen: "gespannt", in Erwartung auf das nächste Klangereignis sollten die Musikerinnen sein. Eine vertrackt notierte und rhythmisch komplexe Komposition, in der die Stille als Kokon fungiert, aus dem sich immer wieder fragile Klanggebilde herausschälen. Erst ist es still, dann wird gewischt, gehaucht und angerissen.
Vier ganz unterschiedliche Stücke hat das Ensemble Musikfabrik unter Emilio Pomárico eingespielt. Ein steter Wechsel zwischen Stille und Geräusch, Wohlklang und Lärm. Jede Komposition nähert sich diesem Themenkomplex auf andere Weise: Jani Christou macht Krach, um die Stille dagegen abzugrenzen, Georg Friedrich Haas inszeniert seine Klänge um eine bedrohlich wirkende Stille herum und bei Evan Johnson ist die Stille mehr eine zärtliche. Aber man muss das auch alles gar nicht unter dem Motto "Stille" hören, nur weil das Wort auf dem CD-Cover prangt. Die Stücke, exzellent dargeboten vom Ensemble Musikfabrik, stehen für sich. Und ob sie dabei nun näher an der Stille dran sind oder am Lärm, das entscheidet am besten jeder für sich selber. Sicher ist: Alles klingt. Und man kann es auch wie Kurt Tucholsky sehen: "Es gibt vielerlei Lärm. Aber es gibt nur eine Stille."
Georg Friedrich Haas:
Ich suchte, aber ich fand ihn nicht
Wie stille brannte das Licht
Jani Christou:
Anaparastasis III ‘The Pianist’
Evan Johnson:
Die Bewegung der Augen
Ensemble Musikfabrik und Gäste
Label: Wergo