Bildquelle: Ricercar
Die Kostprobe vom 1. März 2015
Sulla Lira - The Voice of Orpheus
Sie war ein Mode-Instrument, so um 1500 herum: Wer etwas auf sich hielt, spielte Lira da braccio. Ein Prestige-Objekt, geadelt durch einen Mythos - glaubte man doch, dass der antike Sänger Orpheus mit genau solch einer Lyra einst Menschen und Götter bezaubert hatte. Und so eiferten ihm alle nach, von Lorenzo de' Medici bis Leonardo da Vinci: Sie klemmten sich die Lira da braccio auf den Arm, so ähnlich wie heute eine Geige; mit fünf Saiten, auf denen man auch Akkorde spielen konnte, und zwei zusätzlichen Bordunsaiten, die neben dem Hals gespannt waren. Geradezu ideal, wenn man sich selbst beim Singen begleiten wollte.
Obwohl sie weit verbreitet war, obwohl sie auf vielen Gemälden abgebildet wurde, mal dem Gott Apollo, mal dem blinden Dichter Homer in die Hand gelegt - Noten für die Lira da braccio sind praktisch keine überliefert. Sie war vor allem ein Instrument zum Improvisieren. Der fantastische Fidel-Spieler Baptiste Romain zeigt nun mit seinem Basler Ensemble "Le Miroir de Musique", wie das geklungen haben könnte. Einfühlsam und einfallsreich begleitet er Gesänge, die überwiegend die Geschichte des Orpheus nacherzählen. Das Programm umspannt den Zeitraum von 1500 bis 1630, also zwischen Renaissance und Frühbarock, und bezieht auch einen Abkömmling der Lira da braccio ein, den Lirone, der mehr Saiten hatte und zwischen den Beinen gehalten wurde.
Über den Gesang mit Lira-Begleitung schrieb der Humanist Angelo Poliziano bereits 1488:
Die Stimme war weder wie von jemandem, der liest, noch wie von jemandem, der singt, sondern so wie wenn man beides zugleich hört.
Schon mehr als hundert Jahre vor Monteverdi und der Monodie gab es also eine Art Rezitativ. María Cristina Kiehr und besonders der italienische Tenor Giovanni Cantarini erwecken diese Frühform des Sprechgesangs mit Wärme und leuchtenden Farben zum Leben. Und so erzählt die CD "Sulla Lira" nicht nur von lange versunkenen Instrumenten, sondern quasi nebenbei auch von der Geburt des Rezitativs. Die Lira da braccio-Mode mag eine Eintagsfliege gewesen sein - aber sie hat geholfen, das Tor zu einer epochalen Erfindung der Musikgeschichte ganz weit aufzustoßen: das Tor zur Oper.