Als Sergej Rachmaninow 1915 seine berühmte "Ganznächtliche Vigil op.37" schuf, war er keineswegs der Erste, der es wagte, die grundsätzlich einstimmige und unbegleitet zu singende Musik der russisch-orthodoxen Kirche mehrstimmig zu vertonen.
Bildquelle: Carus
CD-Tipp 12.052016
Der CD-Tipp zum Nachhören!
Bereits 27 Jahre zuvor hatte sein Landsmann Tschaikowsky dergleichen erstmals in Angriff genommen – und zwar gegen den Einspruch der Petersburger Hofsängerkapelle: Sie wachte über die Einhaltung liturgischer Regeln, und allein der Hartnäckigkeit von Tschaikowskys Verleger Jurgenson ist es zu verdanken, dass damals die "Chrisostomos-Liturgie" das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Jetzt hat sich der NDR Chor unter Leitung von Philipp Ahmann dieser und anderer geistlicher Werke Tschaikowskys angenommen.
Die schönsten Chorsätze dieser CD sind nicht einmal die vier Chöre aus der Chrysostomos-Liturgie anno 1878, sondern die 6 Jahre später entstandenen "Neun liturgischen Chöre". Hier tritt Tschaikowsky kompositorisch deutlich selbstbewusster auf und zeigt, zu welch unterschiedlichen Chorsätzen ihn ein- und dieselbe Textvorlage inspirieren kann. Sein "Cherubinischer Lobgesang Nr. 3" aus den "Neun liturgischen Chören" etwa unterschiedet sich beträchtlich von den Sätzen Nr. 1 und 2: derselbe Text zwar, aber jetzt in "neumierter Gesangsart" – das heißt mit den für die russisch-orthodoxe Liturgie so typischen Tonrepetitionen und sparsamen Melodieverläufen. Ausgesprochen expressiv und fast wie die Vorwegnahme eines Maurice Duruflé gerät der 6. liturgische Chor "Vater unser".
Der NDR Chor, der heuer - wie auch der Chor des Bayerischen Rundfunks - sein 70-jähriges Bestehen feiert, ist von seiner Größe her eher ein Kammerchor. Umso bemerkenswerter die Sonorität, die das Ensemble unter seinem Leiter Philipp Ahmann entfaltet, klanglich zwar um einiges entfernt von der dunkel grundierten Mystik russischer Ensembles, dafür aber umso wendiger in Text-Deklamation und dynamischen Nuancierungen.
Der Ansatz des Komponisten, den liturgischen Gesang der russisch-orthodoxen Kirche einerseits von fremden italienischen Einflüssen zu befreien und ihn andererseits respektvoll zu reformieren – dieser Ansatz findet seine stimmige Umsetzung durch den NDR Chor. Mit seiner Expressivität und klanglichen Direktheit erzeugt er einen ziemlich "modernen" Tschaikowsky-Klang, frei von allzu romantisierenden "Weichzeichnern".
Neun liturgische Chöre
Vier Chöre aus der Chrysostomos-Liturgie
Angel vopijase
NDR Chor
Leitung: Philipp Ahmann
Label: Carus