Er polarisiert die Musikwelt derzeit wie kein Zweiter: Der Dirigent Teodor Currentzis wird von den einen als eine Art Erlöser verehrt, von den andern als Selbstvermarkter und Scharlatan verdammt. Was als gesichert gelten kann: In der russischen Stadt Perm im Ural hat Currentzis sein Orchester MuscaEterna in exzessiv langen Proben zu einem exzellenten Klangkörper geformt und hundertprozentig auf sich eingeschworen. Bei den Salzburger Festspielen war er dieses Jahr der ebenso umjubelte wie umstrittene Shootingstar. Demnächst wird er Chefdirigent des fusionierten SWR-Symphonieorchesters.
Bildquelle: Sony Classical
CD-Tipp 01.12.2017
Teodor Currentzis dirigiert Tschaikowsky
Er liebt die Provokation. Er inszeniert sich als Enfant terrible mit Springerstiefeln und roten Schnürsenkeln. Er redet von seinem inneren Engel, steckt sein Orchester in Mönchskutten und schreibt kitschig-esoterische Booklettexte. Im Interview sagt er Sätze wie diesen: "Ich dirigiere Tschaikowsky nicht anders, ich dirigiere ihn richtig." Das mögen viele berühmte Künstler im Stillen von sich denken. Aber in der Klassikwelt, wo es zum guten Ton gehört, die eigene Demut zu betonen, stößt so viel messianisches Sendungsbewusstsein teils auf Spott, teils auf kopfschüttelnde Ablehnung. Und ja, auch ich habe mich schon über Currentzis‘ Egoshow geärgert. Aber sobald der erste Ton erklingt, geht es nicht mehr um Fragen der Verpackung. Wer sich von Currentzis‘ rudernden Bewegungen abgelenkt fühlt, kann ja immer noch mit geschlossenen Augen zuhören.
Dass es keine definitiv "richtige" Interpretation geben kann, ist ohnehin klar. Aber Currentzis‘ Version von Tschaikowskys Sechster ist stark, sehr stark. Und, wie immer bei ihm, radikal subjektiv, auf der Grenze zum Überzeichneten - aber eben auch Takt für Takt fesselnd und handwerklich mit bewundernswerter Perfektion von seinen Musikern umgesetzt.
Allein die Lautstärke-Kontraste! Offenbar hat der Toningenieur Currentzis‘ Klangvorstellung durch Mikrophonierung und Mastering noch unterstrichen. Das ist nichts Ehrenrühriges, Aufnahmen sind ja immer nur ein Abbild der Wirklichkeit. Hören sollte man diese CD jedenfalls nur in ruhiger Umgebung. Zu Beginn sind die Streicher kaum hörbar, bevor die Musik förmlich explodiert.
Genau die Eigenschaften, die mich im Sommer bei den Salzburger Festspielen an Currentzis' Mozart-Interpretation gestört haben, begeistern mich nun bei dieser so ganz anderen Musik. Bei Currentzis klingt kein einziger Ton routiniert oder auch nur naturbelassen. Alles wird durchgestaltet, nachgesteuert, verschärft, krasser gemacht. Currentzis ist ein Manierist, aber im großen Stil. Bei Mozart, dem Meister des Understatement, kostet das allzu oft die Natürlichkeit. Bei Tschaikowsky liegen die Dinge völlig anders. Der Komponist selbst gab seiner Sechsten den Beinamen "Symphonie pathétique". Pathetisch? Und wie!
Kopfüber stürzt sich Currentzis ins Pathos, mildert nichts und rundet nichts. Auf Gedeih und Verderb vertraut er sich Tschaikowskys Fieberkurven an - und landet doch wundersamerweise in keinem Moment beim Kitsch. Die große Stärke dieser Interpretation ist, dass sie bei aller Leidenschaft konsequent auf Larmoyanz und billiges Selbstmitleid verzichtet. So heftig Currentzis in den dramatischen Abschnitten zur Sache geht, so herb und unsentimental gestaltet er die gesanglichen, klagenden. Und beim Verlöschen der Musik ganz am Schluss gibt es keine Drücker und keine Weinerlichkeit. Sondern einfach nur atemberaubendes Pianissimo.
Natürlich geht Currentzis ein gehöriges Risiko ein. Wer Kontraste so überzeichnet und Einzelmomente so grell beleuchtet, riskiert Verständlichkeit und Zusammenhang. Doch Currentzis verschießt sein Pulver nie zu früh und zielt genau. Die Steigerungen wirken explosiv, sind aber keineswegs kopflos. Und für die Form sorgt schon Tschaikowsky selbst mit seiner genialen Dramaturgie. Man kann das mögen, sich begeistern lassen wie ich - jedenfalls bei diesem Stück. Man kann das auch mit guten Gründen ablehnen. Aber eines kann man sicher nicht: Currentzis, wie es jetzt im Feuilleton Mode ist, als Scharlatan und Selbstvermarkter abtun. Nicht immer gehen seine Konzepte so gut auf wie hier. Aber er hat substantielle Dinge zu sagen. Und wenn er eitel ist und Spleens hat - soll er doch. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient ...
Peter Tschaikowsky:
Symphonie Nr. 6 h-Moll, op. 74 "Pathétique"
MusicAeterna
Leitung: Teodor Currentzis
Label: Sony Classical
Sendung: "Leporello" am 01. Dezember 2017, 08.05 Uhr auf BR-KLASSIK