Auf dem Gebiet der IT-Technologie würde man ihn vermutlich einen Nerd nennen; einen, der sich fast ausschließlich seinem Faible widmet und sich abschottet gegen alle äußeren Einflüsse. Die Rede ist von dem isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson. Vor zwei Jahren sorgte er mit einer Philip Glass-CD für Aufsehen. Jetzt legt er eine neue Einspielung vor mit dem schlichten Titel "Johann Sebastian Bach". Der Inhalt ist eine Zusammenstellung von Originalkompositionen für Cembalo bzw. Klavier und diversen Bach-Transkriptionen von Busoni über Wilhelm Kempff bis hin zu eigenen Arrangements.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
Der CD-Tipp zum Anhören
Schon mit dem allerersten Stück BWV 902 wird klar: Víkingur Ólafsson sucht das Besondere, das buchstäblich Un-Erhörte. So wie dieses eher selten gespielte G-Dur-Präludium aus Bachs Köthener Zeit, dessen Fuge später im 2. Teil des "Wohltemperierten Klaviers" wieder auftaucht. Auf dem vorliegenden Album wird sie kurzerhand unterschlagen. Überhaupt geht es Ólafsson nicht um Vollständigkeit oder die Idee integraler Werkzyklen. Vielmehr pickt er sich seine "Rosinen" heraus und präsentiert so seinen ganz persönlichen Bach-Kosmos. Ein Schelm, wer dabei nicht stellenweise an Glenn Gould denkt.
Olafssons Fingertechnik, insbesondere seine Non-Legato-Kultur, – zu hören in extrem zügig gespielten Stücken wie dem D-Dur-Präludium aus dem 1. Teil des "Wohltemperierten Klaviers" - ist in der Tat betörend. Und wenn es eines weiteren Belegs hierfür bedarf: Er findet sich in der geradezu aberwitzig flinken Interpretation von Wilhelm Kempffs Choralbearbeitung "Nun freut Euch, lieben Christen g'mein" BWV 734. Das ist in jedem Fall hohe Schule des polyphonen Klavierspiels, die selbst einen Glenn Gould vermutlich hätte erblassen lassen. Gleichzeitig ist es charakteristisch für die intellektuelle Grundhaltung, mit der sich Olafsson dieser – und generell aller – Musik nähert. Nämlich als der "kühle Klare aus dem Norden", was auch durch die äußere Verpackung dieser Bach-CD und die visuelle Vermarktung unterstrichen wird: Blautöne und scharfkantige Prisma-Collagen bestimmen hier das Layout. Und wenn man dann noch erfährt, dass Ólafssons isländische Heimat bis vor Kurzem nicht einmal einen ordentlichen Konzertsaal besaß, dann unterstreicht auch das die Ausnahmeerscheinung dieses Bach-Denkers.
Olafssons Bach-Kosmos, und das ist das Schöne daran, setzt sich zusammen aus den entlegensten Quellen; darunter auch solchen aus der Romantik, wie etwa der Transkription eines Bach'schen Orgel-Triosatzes durch den böhmischen Strauss-Zeitgenossen August Stradal: in Olafssons Interpretation gerät diese Klavierübertragung des "Adagio"-Satzes zur fast meditativen Studie über Zeit und Vergänglichkeit.
Hierin liegt für mich auch der Haupt-Aspekt dieser Bach-Reise: im mitunter ausgesprochen unkonventionellen Umgang mit dem jeweiligen Notentext. Dass Olafsson dabei durchaus ein Studio-Tüftler ist – einer, der sich nicht nur zu Anschlagskultur und Pedalgebrauch seine eigenen Gedanken macht, sondern auch zur entsprechend optimierten Raumakustik – spricht grundsätzlich für ihn. Eine andere Frage freilich ist es, ob er auch in der Lage ist, dieses kompromisslose Konzept auf der Konzertbühne zu präsentieren. Die CD zumindest lässt aufhorchen.
Johann Sebastian Bach:
Originalwerke und Transkriptionen für Klavier
Víkingur Ólafsson (Klavier)
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Leporello" am 02. Oktober 2018, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK