Mitten im Zweiten Weltkrieg, er war gerade vor den Nazis geflohen und hatte sich in Moskau niedergelassen, komponiert Mieczysłav Weinberg sein erstes Quintett für Klavier und Streicher. Die Flucht ist grauenhaft: Weinberg ist 20, Klaviervirtuose und Kompositionsstudent in Warschau, Jude. Zu Fuß entgeht er der Gefahr, ins Exil nach Minsk, wo er weiter studiert, von dort nach Taschkent. Seine Familie bleibt und stirbt im Warschauer Ghetto.
Bildquelle: ECM
CD-Tipp 17.01.2017
Der CD-Tipp zum Anhören
Scheinbar wenig davon hört man auf den ersten Blick im versöhnlichen, meditativen, stimmungsvollen Klavierquintett von 1944. Doch wie bei seinem engen Freund Schostakowitsch muss man auch bei Mieczysłav Weinberg zwischen den Zeilen lesen, zwischen den Noten hören. Freie Kunst ist auch in der sowjetischen Diktatur unter Stalin nicht möglich.
Mieczysłav Weinberg gehörte bis vor ein paar Jahren zu den Unterschätzten, den Vergessenen. Der Schostakowitsch-Freund und Wahl-Moskauer war das Gegenteil eines Selbstvermarkters, sein Personalstil immer ausgeprägt, aber selten konform mit den Strömungen der Zeit. Bis zur Perestroika und seinem Tod 1996 hatte ihn weder der Westen, noch der Osten richtig auf dem Schirm - bornierte ästhetische Ideologie dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs.
Gidon Kremer und seine Kremerata Baltica waren mit die ersten, die das unglaublich reiche und vielfältige Werk von Mieczysłav Weinberg entdeckten, wertschätzten und der Öffentlichkeit präsentierten. Und die Mission dauert an: auf dem aktuellen Doppelalbum beim finden sich - erstklassig musiziert - ein Arrangement jenes Klavierquintetts von 1944 und die vier Kammersymphonien von Weinberg. Quasi musikalische Tagebücher, intime Zeugnisse, Gidon Kremer sagt: "persönliche Reflexionen eines großen Komponisten über seine Lebenszeit".
Hört man Weinbergs Kompositionen zum ersten Mal, fällt die Nähe zu Schostakowitsch ins Auge. Bleibt man dann dran, an den spannenden Klängen, erkennt man die Verschiedenartigkeit im Detail und die feinen Differenzen dieser beiden großen Musiker und feinsinnigen Künstler, die beide unter Stalin und Breschnew gelitten und mit ihrer seelischen und körperlichen Gesundheit für die Integrität ihrer Kunst bezahlt haben. Mögen sich weiter viele von Gidon Kremer und der Kremerata Baltica inspirieren lassen: zum Hören und Spielen von Weinbergs Musik.
Kammersymphonien Nr. 1-4
Klavierquintett op. 18 (arr. für Kammerorchester)
Kremerata Baltica
Leitung: Gidon Kremer
Label: ECM