Er war der Außenseiter der Avantgarde. Doch auch wenn er nie zum "inner circle" rund um Stockhausen, Boulez und Nono gehörte, hat Iannis Xenakis die Musikgeschichte des 20. Jh. geprägt. Nun ist eine CD mit drei zentralen Orchesterwerken von Xenakis erschienen.
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Der CD-Tipp zum Anhören
Paris im Herbst 1954, morgens früh um 7 Uhr. Der Dirigent Hermann Scherchen hat den jungen Architekten und Komponisten Iannis Xenakis zu sich ins Hotel bestellt. Der berühmte Maestro liegt noch im Bett, aber als er die riesigen Partiturseiten durchblättert, die Xenakis mitgebracht hat, ist er plötzlich hellwach: "Sie sehen die Musik nicht wie ein Musiker, sondern von außerhalb", begeistert sich Scherchen. "Das gefällt mir. Ich werde das Stück aufführen, doch von einer so großen Partitur kann ich nicht dirigieren. Verringern Sie die Anzahl der Instrumente!"
"Metastaseis", das Stück mit den vielen Notenlinien und den kühnen Streicherglissandi, machte Iannis Xenakis weltberühmt - und zwar in der von Scherchen angeregten Neufassung. Nun, rund 60 Jahre später, hat sich der Dirigent Arturo Tamayo als erster die Riesenpartitur der Urfassung aufs Pult gelegt: dichter in den Mittelstimmen, massiver im Klang, und in diesem Live-Mitschnitt mit dem Orchester der italienischen RAI so packend und intensiv wie nie zuvor.
Graphische Kurven, mathematische Formeln, statistische Methoden, wissenschaftliche Theorien - all das verwandelte Iannis Xenakis in Musik. Trotzdem klingen seine Orchesterwerke nie abstrakt, sondern gehen mit elementarer Wucht unter die Haut. In "Terretektorh" sitzt das Orchester in einem großen Kreis, und das Publikum, zwischen den 88 Musikern verteilt, wird vom Rotieren und Wirbeln der Klänge durchgeschüttelt wie bei einem Gewittersturm auf einem einsamen Berggipfel. Und wer das noch größer besetzte "Nomos Gamma" hört, ebenfalls aus den 1960er Jahren und ebenfalls für im Kreis verteiltes Orchester, dem dürfte es schwer fallen, die brutal niederprasselnden Schlagzeugsalven nicht als Echo der Kriegs- und Bürgerkriegserfahrungen des Komponisten zu deuten.
Die spektakuläre räumliche Wirkung von "Terretektorh" und "Nomos Gamma", beide von Arturo Tamayo mit dem Residentie Orkest Den Haag eingespielt, lässt sich über Kopfhörer schon erahnen - wenn man nicht auf die Surround-Version warten will, die demnächst auf Blu-ray veröffentlicht werden soll. Schade zwar, dass das Hörerlebnis nach 41 Minuten schon vorbei ist - dafür aber bekommt man in kompakter Form drei Meilensteine der Moderne, die in idealer Weise erfüllen, was Xenakis versprochen hat: "Der Hörer muss gepackt und, ob er will oder nicht, in den Kreis der Töne gezogen werden. Der sinnliche Schock muss ebenso fühlbar sein wie beim Hören des Donners oder beim Blick in den unendlichen Abgrund."
"Metastaseis A"
"Terretektorh"
"Nomos Gamma"
Orchestra Sinfonica di Roma della RAI
Residentie Orkest The Hague
Leitung: Arturo Tamayo
Label: Mode
Sendung: "Leporello" am 19. Januar 2017, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK