Die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent Kirill Petrenko haben die Corona-Krise kreativ genutzt: Zunächst ohne Publikum, dann mit reduzierter Besucherzahl und schließlich wieder vor ausverkauftem Haus haben sie Schostakowitschs Symphonien 8, 9 und 10 aufgeführt – und jetzt bei ihrem Eigenlabel veröffentlicht. In seinem Vorwort verbucht Petrenko diese Situation als Chance: "So paradox es klingen mag: Diese drei Symphonien in einer Phase weitgehender Isolation aufzuführen, hat mir persönlich eine neue Ebene zum Verständnis dieser Musik eröffnet." Eine nachhaltige Hörerfahrung.
Bildquelle: Berliner Philharmoniker Recordings
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Mit düsteren Streicher-Kantilenen im Adagio-Tonfall startet Dmitrij Schostakowitsch in seine Achte Symphonie – hier schon können die Celli und Bässe der Berliner Philharmoniker ihren dunklen, satten Klang ausspielen. Mit großem Atem spannt Kirill Petrenko weite Bögen in diesen Trauergesängen, bis zur Suggestion von Unendlichkeit dehnt er die Zeit. Eine Glorifizierung des Sieges von Stalingrad 1943, wie es Stalin und seine Schergen von Schostakowitsch erwartet haben, bietet dieses fünfsätzige Monstrum allerdings keineswegs. Im Gegenteil: Mit greller Zirkusatmosphäre dreht der Komponist dem Diktator eine lange Nase.
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… den Reichtum von Schostakowitschs Musik in ihrer ganzen Fülle, aber auch in all ihren Facetten genießen möchte.
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... mit den Berliner Philharmonikern ein Weltklasse-Orchester mit fabelhaften Solisten am Start ist – und mit Kirill Petrenko einer der besten Dirigenten.
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… auch die Tonmeister bei den Aufnahmen in der idealen Akustik der Berliner Philharmonie ganze Arbeit geleistet haben.
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… Nachdenken, wie aktuell diese antifaschistische Musik angesichts der Weltlage ist.
Der Swing, den Petrenko und seine brillante Solistenschar aus der Partitur herauskitzeln, ist ansteckend. Das gilt auch für die nachfolgende Neunte Symphonie, das genaue Gegenstück zur Achten. Statt eine Hymne auf den Sieg gegen Hitlerdeutschland zu liefern, flüchtet sich Schostakowitsch 1945 in die Maske des Klassizismus à la Joseph Haydn. Elegant und graziös, aber straffer als üblich, weil er die kommenden Attacken schon mitdenkt, nimmt Petrenko diese doppelbödige Symphonie: Ein Tanz über dem Abgrund.
Erst nach dem Tod Stalins 1953 löst sich Schostakowitschs Blockade – und er schreibt seine düstere Zehnte Symphonie, die an zweiter Stelle ein krasses Porträt des Diktators bietet. Ungewohnt leicht, rasant, zackig dirigiert Petrenko dieses Zerrbild – keineswegs nur auf Radau getrimmt.
In seinem symphonischen Nachruf auf Stalin reflektiert Schostakowitsch vor allem das unermessliche Leid unter dem Terrorregime. Und als Akt des Überlebenswillens, der Selbstbehauptung meißelt er seiner Zehnten Symphonie die Initialen seines Namens D-Es-C-H als Tonfolge ein. Markant tritt das Motiv immer wieder auf – auch als hochgepeitschte Walzer-Parodie.
Mit großem Einfühlungsvermögen bis hin zur Identifikation mit dem Komponisten gibt Petrenko der unsagbaren Trauer dieser Musik Raum. Und das Pathos zügelt er gekonnt – bei ihm ufert nichts aus, da ist alles auf den Punkt gebracht. Keine Frage: Kirill Petrenko ist ein exemplarischer Schostakowitsch-Dirigent.
Dmitrij Schostakowitsch:
Symphonie Nr. 8 c-Moll op. 65
Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70
Symphonie Nr. 10 e-Moll op. 93
Berliner Philharmoniker
Leitung: Kirill Petrenko
Label: Berliner Philharmoniker Recordings (2 CDs & 1 Blue-ray Disc)
Sendung: "Piazza" am 29. April 2023 ab 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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