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Album der Woche – Gustav Mahler "Das Lied von der Erde" in der Klavierfassung

"Das Lied von der Erde", 1908 von Gustav Mahler in Toblach komponiert, ist man in großer Orchesterbesetzung, also symphonischem Breitwandsound gewohnt. Doch es geht auch ganz anders, nämlich nur mit einem Flügel, an dem dann allerdings ein wirklich guter Pianist sitzen sollte. Der muss den symphonischen Part dieses Liederzyklus' auf Nachdichtungen chinesischer Lyrik dann quasi im Alleingang zum Leben erwecken. Diese Fassung haben jetzt der Tenor Piotr Beczala und der Bariton Christian Gerhaher gemeinsam mit dem Pianisten Gerold Huber in einer neuen Interpretation vorgelegt.

Bildquelle: Sony Classical

Der CD-Tipp zum Anhören

Das "Lied von der Erde" ist ein ganz besonderes Werk von Gustav Mahler. Ob er den Liedzyklus tatsächlich vor seine neunte Symphonie schob, weil er Angst vor einer Neunten hatte, über die mancher seiner Kollegen – Beethoven, Schubert, Bruckner – nicht hinausgekommen waren? Gut möglich wäre es. Wenn Mahlers Neunte gern als Werk des Abschieds bezeichnet wurde, so gilt das für "Das Lied von der Erde" gewiss erst recht – nicht nur, weil sein letzter und längster Satz ausdrücklich "Der Abschied" heißt. Schon Mahlers Schüler Anton Webern schrieb seinem Freund Alban Berg nach dem ersten Hören, das "Lied von der Erde" sei "wie das Vorbeiziehen des Lebens, besser des Gelebten in der Seele des Sterbenden".

Klaviersatz mit Röntgenblick

So lässt sich das "Lied von der Erde" zweifellos hören. Und dieser Aspekt des Werkes tritt in der Klavierfassung noch sehr viel plastischer und klarer hervor. Piotr Beczala und Christian Gerhaher legen sie gemeinsam mit dem Pianisten Gerold Huber jetzt in großartiger Interpretation vor. Dieser Fassung fehlt alles Süffige, auch Besänftigende, das Mahlers wunderbarer Orchesterklang bietet. An seine Stelle tritt der zwangsläufig abgespeckte, stellenweise fast ausgedörrte Klaviersatz, der alle harmonischen und rhythmischen Schärfen des Werkes viel gnadenloser, quasi mit Röntgenblick freilegt.

Unerhörte Klarheit und Präzision

Was keineswegs bedeutet, dass man diesem Klavierklang nicht fasziniert, immer wieder auch ergriffen lauscht. Man tut es ganz sicher, wenn er so farbig, lebendig, zugleich mit so unerhörter Klarheit und Präzision geformt wird, wie von Gerold Huber. Ihm gelingt das Kunststück, den gewohnten Orchesterklang keine Sekunde lang vermissen zu lassen. Eine pianistische Meisterleistung, die diese Fassung als absolut eigenständiges, für sich stehendes und gültiges Werk erscheinen lässt.

Kurz und bündig

Diese Box ist ein Hörgenuss, weil …
… hier drei wunderbare Künstler völlig ausreichen, um einen großen sinfonischen Liedzyklus zum Leben zu erwecken.

Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil …
… es Gustav Mahler einmal nicht als den großen Symphoniker, sondern als Kammermusiker reinsten Wassers erlebbar macht.

Dieses Album führt bei Überdosis zu …
… erhöhtem Weinkonsum. Die Gefahr, dass "ein goldner Becher Weins" nicht reicht, ist jedenfalls nicht ganz klein.

Ergreifender Abschied

Christian Gerhaher singt und gestaltet gewohnt fantastisch. Er deutet jedes Wort, formt jede Silbe, jeden Vokal, ohne jemals manieriert zu wirken. Im "Lied von der Erde" ist viel von Einsamkeit die Rede, in den drei von Gerhaher gesungenen Teilen besonders. Und er macht diese Einsamkeit hörbar, sein "Abschied" ist ergreifend. Schöner lässt sich die Verlorenheit des Individuums in einer wundervollen, doch letztlich fremden Welt nicht besingen. Ein herzzerreißender Abgesang auf das ungelebte Leben.

Ein Lied auf die Freundschaft und das Glück

Piotr Beczala übernimmt mit überragender stimmlicher Brillanz und Kraft, dabei hochkultiviert, die Rolle, die Mahler diesem Gegenpart zudachte: Er erzählt von überschäumender Lebensfreude, die so schnell in Verzweiflung umkippen kann. Aus Beczalas Version des "Pavillons aus Porzellan" spricht die reine Lebensbejahung, er singt das hohe Lied auf die Freundschaft und das Glück.

Inspiration und Trost

Es ist sicher kein Fehler, dieses Album bei einem guten Wein zu hören, es muss ja nicht unbedingt der "Wein im goldnen Pokale" sein, den das "Trinklied vom Jammer der Erde" zu Beginn besingt. Wer einmal eine Stunde intensiv über sein Leben, über dessen Sinn, über unsere Welt insgesamt nachdenken möchte, dem sei dieses Album wärmstens ans Herz gelegt. Bei aller Traurigkeit inspiriert es ganz enorm dazu, und ist zugleich ein tiefer Trost.

Infos zur CD

Gustav Mahler:
"Das Lied von der Erde" (Klavierfassung)

Piotr Beczala (Tenor)
Christian Gerhaher (Bariton)
Gerold Huber (Klavier)

Label: Sony Classical

Label: Deutsche Grammophon

Sendung: "Piazza" am 20. Mai 2023 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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