Der Schweizer Dirigent Marcello Viotti war langjähriger und hochgeschätzter Chef des Münchner Rundfunkorchesters. Mittlerweile macht sein Sohn Lorenzo Viotti eine rasante Pultkarriere. Als Auftakt zu einer Puccini-Trilogie mit Regisseur Barrie Kosky bringt er auf DVD eine ungewöhnliche "Tosca"-Produktion heraus, bei der einem Hören und Sehen vergeht!
Bildquelle: Naxos
Der CD-Tipp zum Anhören
Vergessen Sie das Rom-Dekor: Kein Sant'Andrea della Valle, kein Palazzo Farnese, keine Engelsburg! Mit solch verstaubten Sehgewohnheiten geben sich Dirigent Lorenzo Viotti und Regisseur Barrie Kosky in Amsterdam nicht ab. Sie verstehen ihre "Tosca" als hochkonzentriertes Psychodrama, als düsteres Kammerspiel, als eine Art Film Noir! Riesiger schwarzer Hintergrund, Staffelei und Blumengesteck – das ist der imaginierte Kirchenraum, in dem sich das kurze Glück des Malers Cavaradossi und der Sängerin Tosca abspielt. Innerhalb eines Tages wird diese Liebe durch Machtmissbrauch, Politik und Gewalt in Tod und Selbstmord enden. Dafür sorgt Polizeichef Scarpia, der ausgerechnet zum mächtigen "Te Deum" plant, wie er Cavaradossi an den Galgen und Tosca in sein Bett bringen wird. Zu diesem blasphemischen Kontrapunkt taucht aus dem Hintergrund ein riesiges Altartriptychon auf, eine Höllenfahrt in Rubens-Manier mit Aussparungen anstelle der Gesichter, durch die die Chorsänger ihre Köpfe stecken. Ein lebendiges Jüngstes Gericht von kolossaler Wirkung…
Der Armenier Gevórg Hakobján gibt Roms Polizeichef im grauen Maßanzug als intelligenten Sadisten, dem man die Ermordung durch Tosca mit seinem eigenen Sushi-Messer wahrlich gönnt. Joshua Guerrero ist ein großartiger Cavaradossi, der weniger auf Tenorschluchzer als auf psychologische Feinzeichnung setzt. Die Schwedin Malyn Byström ist eine Tosca mit schlanker, wohltimbrierter und nuancenreicher Stimme.
Diese DVD muss haben, wer …
… den Puccini hinter dem Kitsch-Klischee kennenlernen will: Lorenzo Viotti zeigt ihn als atemberaubend stringenten Musikdramatiker!
Diese DVD wird lieben, wer …
… Oper nicht als Ausstattungs-, sondern als Ausdruckstheater versteht!
Diese DVD sieht man am besten nicht allein, denn …
… man könnte jemanden zum Festhalten brauchen!
Der zweite Akt spielt in Scarpias grau betonierter Designerküche, der letzte Akt vor einer wellblechartigen Gefängniswand mit Außentreppen. Barrie Kosky wollte eine "Tosca" zeigen, wie man sie noch nie gesehen hat – zugegeben mit reichlich Blut! Vor allem aber ist es eine "Tosca", wie man sie noch nie gehört hat: Lorenzo Viotti unterschätzt Puccini nicht als effektheischenden Schönklang-Pinsler, sondern nimmt die Partitur in jedem Takt ernst. Plötzlich begreift man die tödliche Ausweglosigkeit, die Kontrastdramaturgie, den unglaublichen und drastischen Detailreichtum, mit dem die Musik fast kinematographisch die Handlung vorwegnimmt.
Das Nederlands Philharmonisch Orkest ist der eigentliche Erzähler dieser Geschichte und man folgt ihm atemlos bis zum Ende. Ein Ende, das keinerlei romantische Verklärung zulässt: Nach Toscas Todessprung dreht sich die Gefängniswand und man sieht sie nicht "avanti a dio", sondern zerschmettert am Boden liegen. Nichts für zarte Gemüter, aber zu hundert Prozent ein großer Opernwurf, in dem szenische und musikalische Interpretation sich perfekt ergänzen!
Gioacolo Puccini:
"Tosca"
Dutch National Opera Amsterdam
Leitung: Lorenzo Viotti
Regie: Barrie Kosky
Label: Naxos (DVD)
Sendung: "Piazza" am 13. Mai 2023 ab 8.05 Uhr auf BR-KLASSIK
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