Vor zwei Jahrzehnten gründete der französische Dirigent François-Xavier Roth sein Orchester Les Siècles. Die Besonderheit des Ensembles: Die Musikerinnen und Musiker spielen das komplette Repertoire auf historischen Instrumenten, die der Entstehungszeit der Musik entsprechen, ganz egal, ob es um Werke des 19. oder 20. Jahrhunderts, um Beethoven und Berlioz oder um Debussy und Strawinsky geht. Ganz oben auf der Repertoire-Liste von Les Siécles steht Maurice Ravel, und das fünfte Album mit Ravels Musik liegt nun vor.
Bildquelle: Harmonia Mundi
Album der Woche – 24. Juni 2023
"L'heure espagnole & Bolero" von Les Siècles
Die Handlung ist kaum der Rede wert, auch wenn sie dazu führte, das Maurice Ravels "L'heure espagnole" 1911 erst mit mehrjähriger Verspätung uraufgeführt wurde. Zu zweideutig, zu schlüpfrig erschien dem Direktor der Pariser Operá der kleine Einakter. Und tatsächlich glaubten nach der Premiere viele, sich über die Anzüglichkeiten des Librettos empören zu müssen. Die Kritik meinte gar, eine "pornographische Operette" erlebt zu haben.
Klingt wild. Doch worum geht es eigentlich? Um die reizvolle Gattin des Uhrmachers Torquémada im spanischen Toledo des 18. Jahrhunderts. Im Ehebett erlebt sie wohl nicht ganz die Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche, was ja vorkommen soll. Deshalb würde die schöne Concepcion die Abwesenheit ihres Gatten gerne für außereheliche Schäferstündchen nutzen. Doch der Versuch mit einem total vergeistigten Studenten misslingt ebenso gründlich wie der zweite mit einem furchtbar eitlen Bankier. Erst der einfache, weder vergeistigte noch eitle Maultiertreiber Ramiro kann die Schöne schließlich zufriedenstellen.
Dieses Album wird lieben, wer …
… Sinn für musikalischen Humor hat und beim Musikhören gerne mal schmunzelt.
Dieses Album lohnt sich, weil …
… es kleines, aber zauberhaftes Meisterwerk der Opernliteratur in exemplarischer Interpretation bietet.
Dieses Album lädt dazu ein, es …
… immer wieder zu hören. Wird nie langweilig. Und wann kann man schon einmal eine komplette, wunderbare Oper in knapp vierzig Minuten hören.
Was heute allenfalls leicht frivol wirkt, erregte damals gewaltig die Gemüter. Obwohl Ravel im Vorfeld der Uraufführung versucht hatte, vorzubeugen. "Uneingeschränkt humoristisch" sei der Geist des Werkes, schrieb er vorab in einem Zeitungsartikel. Die italienische Buffo-Oper aus dem Geist der französischen Sprache habe er erneuern wollen, Musik, Harmonie, Rhythmus und Orchestrierung sollten die Ironie zum Ausdruck bringen. Half alles nichts, obwohl Ravel damit absolut den Kern der Sache traf. Denn der eigentliche, einfach großartige Protagonist dieses kleinen, knapp vierzigminütigen Meisterwerks ist das Orchester.
Die Klänge, die Ravel dem groß besetzten, aber kammermusikalisch delikat agierenden Orchester entlockt, sind hochgradig raffiniert, witzig und amüsant. Ravel war ein absoluter Meister in Sachen Orchestrierung. Mit dieser von musikalischer Ironie triefenden Partitur beweist er es auf einem selbst für ihn unglaublichen Niveau. Ob Tubasolo, imitierter Hahnenschrei, Xylophon-Geklöppel, Triller der tiefen Bläser, Ravels Einfallsreichtum kennt keine Grenzen. All das muss eine Aufnahme dann klanglich allerdings auch realisieren. Genau das gelingt François-Xavier Roth und seinem Orchester Les Siècles ebenso lustvoll wie phänomenal. Was sicher auch daran liegt, dass diese Originalklang-Truppe auf genau jenen Instrumenten spielt, für die Ravel vor 120 Jahren komponiert hat.
Dass Roth für seine Aufnahme von "L'heure espagnole" auch noch ein fantastisches, in perfektem Französisch parlierendes Gesangsquintett versammelt hat, macht das Ganze perfekt. Ein musikalischer Hochgenuss, über den sich nur sagen lässt: In der Kürze liegt die Würze! Die orchestrale Zugabe, Ravels "Bolero", ist nicht mehr ganz so lustig. François-Xavier Roth verleiht dem fast zu Tode gespielten Stück eine leicht unbehagliche, fast bedrohliche Note, die man so selten hört. Ein Ravel-Album, das nicht nur den Fans dieses Genies wärmstens empfohlen sei.
Maurice Ravel:
"L'heure espagnole" (Oper in einem Akt)
Bolero
Isabelle Druet (Mezzosopran)
Julien Behr (Tenor)
Loic Felix (Tenor)
Thomas Dolie (Bariton)
Jean Teitgen (Bass)
Les Siècles
Leitung: François-Xavier Roth
Label: Harmonia Mundi
Sendung: "Piazza" am 24. Juni 2023 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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