Man muss die Musik lieben, und: Der Klang muss eine Botschaft vermitteln. Davon ist Yulianna Avdeeva überzeugt. Die Pianistin gewann 2010 den renommierten Internationalen Chopin-Wettbewerb in Warschau - als erste Frau seit Martha Argerichs Triumph im Jahr 1965. Unter dem Titel "Resilience" hat Avdeeva jetzt beim Label Pentatone ein neues Soloalbum mit Klaviermusik von russischen und polnischen Komponisten eingespielt.
Bildquelle: Pentatone
Der CD-Tipp zum Anhören
Die Szene ist eindrücklich: Noch unter deutschen Bomben spielt Wladislaw Szpilman am 23. September 1939 das letzte Live-Konzert im polnischen Radio. Die Episode wurde zum Symbol polnischen Widerstands gegen die Deutschen und weithin bekannt, nicht zuletzt durch den preisgekrönten Film "Der Pianist".
Regisseur Roman Polanski hat 2002 Szpilmans Memoiren verfilmt und damit Szpilman als Pianist bekannt gemacht. Dass er auch Leiter der Musikabteilung des polnischen Radios, Kammermusikpartner berühmter Solisten, Festivalgründer und vor allem auch Komponist war, ist bis heute nicht sehr präsent. Die Pianistin Yulianna Avdeeva will daran erinnern. Als sie die Gelegenheit hatte, auf Szpilmans Flügel zu spielen, war die Idee zum Aufnahmeprojekt geboren. Zwei Kompositionen von Szpilman stehen im Zentrum ihrer aktuellen CD. Sie werden kombiniert mit Klaviersonaten von Schostakowitsch, Weinberg und Prokofjew, Komponisten, die sich alle auf jeweils unterschiedliche Art und Weise in schwierigen und instabilen Zeiten behauptet haben, nicht zuletzt mit ihrem bedingungslosen Fokus auf die Musik. Daher der Albumtitel: "Resilience".
Dieses Album lohnt sich, weil …
… wenig gespielte Klaviermusik zu entdecken ist.
Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil …
… eine ausgezeichnete Pianistin zeigt, was sie kann.
Dieses Album hört man am besten, wenn …
… man mal wieder Prioritäten abwägen muss.
Resilienz – Widerstandsfähigkeit, aber auch Anpassungsfähigkeit ist ein in unseren Tagen häufig strapazierter Begriff im Kontext Arbeitsorganisation, Zeitmanagement, Führungskräfteschulung. Anders in diesem Fall. Yulianna Avdeeva hat das Motto nicht nur mit Blick auf den Entstehungshintergrund der Stücke gewählt, sondern auch mit Blick auf ihre persönliche Situation. Denn die CD-Aufnahmen sind im Winter 2020/21 entstanden als das Konzertleben im Zuge der Corona-Pandemie im Lockdown war. Avdeeva spielte im wöchentlichen Video-Livestream Hauskonzerte, um ihre Musikbegeisterung weiterhin zumindest auf diesem Wege mit dem Publikum zu teilen. Das war ihr Weg, der pandemischen Herausforderung zu begegnen und Kraft und Trost in der Musik zu finden.
Schostakowitsch schrieb seine erste, radikal moderne Sonate 1926 in einer schwierigen Zeit, in der er als junger Künstler in der Sowjetunion unter hohem Erwartungsdruck stand. Weinbergs vierte ausdrucksstarke Sonate ist entstanden, nachdem seine Familie im Holocaust ermordet wurde, Weinberg zwar nach Moskau fliehen konnte, dort jedoch vom Stalin-Regime bedrängt wurde. Prokofjews Klaviersonate Nr. 8 aus dem Jahr 1944 gehört zu den sogenannten "Kriegssonaten" und bringt extreme Ausdrucksgesten zusammen, dramatisch oder bösartig grummelnde Momente ebenso wie lyrisch verträumte.
Yulianna Avdeeva erkundet den intensiven Spannungsbogen der Stücke detailgenau und mit unglaublich differenziertem Anschlag und Klang. Sie stellt sich konsequent in den Dienst der Musik, spielt ganz unprätentiös mit energievollem Drive und zugleich mit Innigkeit. So vermittelt sich dieses Album keineswegs als eine rein persönliche Krisenbewältigungsstrategie, sondern zeigt einmal mehr, was für eine wunderbare Musikerin und ausgezeichnete Pianistin Yulianna Avdeeva ist.
Yulianna Avdeeva – "Resilience"
Wladyslaw Szpilman:
Mazurka; Suite "The Life of the Machines"
Dmitri Schostakowitsch:
Klaviersonate Nr. 1
Mieczyslaw Weinberg:
Klaviersonate Nr. 4
Sergej Prokofjew:
Klaviersonate Nr. 8
Yulianna Avdeeva (Klavier)
Label: Pentatone
Sendung: "Piazza" am 03. Juni 2023 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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